übermüdes abendland

7. Mai 2007

die letzte nacht, die blaugefrorn und knochenstarr
sich an den rotwein klammernd auf die leinwand
leergewohnter häuser grinst: hast du noch eurostückchen
kauf dir erinnerungen, schnell, bevor die welt zerfällt

nimm all die abgelegten süchte auf und halt sie in den
aufgemalten strahl der ichfabrik, bunt wie lavalampenblut
vermischt mit dispersionsverbrechen: das ist kein wohnraum hier
das ist der zwang klischees von wohlstand vorzuleben, die in

den treibhäusern der gengemüterzüchter aus blankgezogenen
erinnerungen wuchern: schnell wird ein pressevorwand
hingerichtet als seis ein insasse aus echtem fleisch

und diese letzte, allerletzte nacht greift mit tentakeln
in die leinwandkästen der erkenntnistaucher: ein ruf nur
und die dunkelheit, unweigerlich, ist da

© Sonogara (2007)

••• Als ich zum ersten Mal Gabriela Mistrals „Sonette vom Tode“ las, fiel mir tatsächlich zunächst gar nicht auf, dass sie nicht gereimt waren. Als ich es schliesslich bemerkte, faszinierte mich die Idee. In der Tat ist es vor allem das Versmass, das diese Form so musikalisch macht; und es braucht den Reim gar nicht, der in unserer verhältnismässig reimarmen Sprache doch zu schnell zu einer übergrossen Fessel wird.

Später habe ich feststellen müssen, dass lediglich der Nachdichter auf den Reim verzichtet hatte, um in seiner Übertragung näher am Sinn, dichter bei den ursprünglichen Worten bleiben zu können. Im spanischen Original sind Gabrielas Sonette sehr wohl gereimt. Wie auch immer – die Idee des ungereimten Sonetts hat sich bei mir festgesetzt.

Nun gibt es bekanntlich keine Zufälle. Vor wenigen Tagen stiess ich im Weblog von Sonogara auf ein ungereimtes Sonett. Und da es durchaus mehr zu bieten hat als nur den schönen Formenmantel, habe ich mir Erlaubnis eingeholt, es hier zu zitieren.

Absurditäten des Literaturbetriebs

6. Mai 2007

••• Vito von Eichborn mischt sich unvermittelt ein in eine rege Debatte drüben beim Literatur-Café. Erstaunlich, dass ein Verleger noch Mühe aufwenden muss für die eigene Entmystifizierung. An dieser ganzen Debatte jedoch ist eine bedeutende Winzigkeit hervorzuheben. Vito von Eichborn gibt eine BoD-Reihe heraus, in der man sich – da die Kalkulation passt – auch Literatur jenseits der leichten Vermarktbarkeit leisten kann. Was geschieht hier? Ist es eine Erneuerung verlegerischen Ethos? Wird der Selbstverlag salonfähig, indem auf dem BoD-Buch-Cover ein Verlegername prangt? Warum kann Eichborn das Buch nicht – auf gleiche Weise hergestellt – unter (s)einem Verlagslabel am Markt platzieren? Wofür brauchen Autoren noch einen Verleger?

Zu gern würde ich mit Herrn Eichborn über diese und angrenzende Fragen sprechen…

Meine Favoriten

6. Mai 2007

••• Die Liste der Artikel-Favoriten in der Sidebar rechts wird generiert auf Basis der Besucherzahlen, wobei nur zählt, wenn ein Mensch auf einen Beitrag klickt. Diese Favoriten-Liste wird gerade von Neu-Besuchern auch gern genutzt. In den Diskussionen der letzten Tage ist mir nun aufgefallen, dass selbst ganz treue Turmsegler-Leser doch nicht orientiert sind über Beiträge, die länger zurückliegen und erschienen sind, als der Turmsegler noch kaum Leser hatte.

Also habe ich mir überlegt, eine Liste meiner persönlichen Favoriten zusammenzustellen. Das sind Beiträge, von denen ich mir wünsche, dass später hinzugekommene Leser auch auf sie aufmerksam werden. Hier ist sie (abzüglich der Beiträge, die auch zu den Leser-Favoriten zählen):

Viel Spass beim Stöbern.

PS: Unter Archive/Alle Beiträge in der Sidebar findet man übrigens das gesamte Turmsegler-Inhaltsverzeichnis und ein Verzeichnis aller bislang erwähnter Autoren und Autorinnen.

Shall I compare thee to a summer’s day?

6. Mai 2007

Shall I compare thee to a summer’s day?
Thou art more lovely and more temperate:
Rough winds do shake the darling buds of May,
And summer’s lease hath all too short a date:
Sometime too hot the eye of heaven shines,
And often is his gold complexion dimmed,
And every fair from fair sometime declines,
By chance, or nature’s changing course untrimmed:
But thy eternal summer shall not fade,
Nor lose possession of that fair thou ow’st,
Nor shall death brag thou wander’st in his shade,
When in eternal lines to time thou grow’st,
So long as men can breathe, or eyes can see,
So long lives this, and this gives life to thee.

Soll ich vergleichen einem Sommertage
Dich der du lieblicher und milder bist?
Des Maien teure Knospen drehn im Schlage
Des Sturms und allzukurz ist Sommers Frist.

Des Himmels Aug scheint manchmal bis zum Brennen,
Trägt goldne Farbe die sich oft verliert,
Jed Schön will sich vom Schönen manchmal trennen
Durch Zufall oder Wechsels Lauf entziert.

Doch soll dein ewiger Sommer nie ermatten:
Dein Schönes sei vor dem Verlust gefeit.
Nie prahle Tod, du gingst in seinem Schatten . . .
In ewigen Reimen ragst du in die Zeit.

Solang als Menschen atmen, Augen sehn
Wird dies und du der darin lebt bestehn.

William Shakespeare, Sonett Nr. XVIII
Übertragung: Stefan George

••• Hat jemand gemeint, das wär schon alles gewesen zum Thema Stefan George? Da muss ich enttäuschen. George hat neben eigener Dichtung auch diverse Übersetzungen ins Deutsche zu verantworten.

Legendär ist seine Übertragung von Baudelaires „Blumen des Bösen“. Doch auch Shakespeares Sonette hat George nachgedichtet. Der vollständige Text ist sogar online zu finden, und ein Vergleich mit den Übertragungen von Christa Schuenke – nun, überraschend.

Aus Fernen, aus Reichen

4. Mai 2007

Was dann nach jener Stunde
sein wird, wenn dies geschah,
weiß niemand, keine Kunde
kam je von da,
von den erstickten Schlünden,
von dem gebrochnen Licht,
wird es sich neu entzünden,
ich meine nicht.

Doch sehe ich ein Zeichen:
über das Schattenland
aus Fernen, aus Reichen
eine große, schöne Hand,
die wird mich nicht berühren,
das läßt der Raum nicht zu:
doch werde ich sie spüren
und das bist du.

Und du wirst niedergleiten
am Strand, am Meer,
aus Fernen, aus Weiten:
»- erlöst auch er«;
ich kannte deine Blicke
und in des tiefsten Schoß
sammelst du unsere Glücke,
den Traum, das Los.

Ein Tag ist zu Ende,
die Reifen fortgebracht,
dann spielen noch zwei Hände
das Lied der Nacht,
vom Zimmer, wo die Tasten
den dunklen Laut verwehn,
sieht man das Meer und die Masten
hoch nach Norden gehn.

Wenn die Nacht wird weichen,
wenn der Tag begann,
trägst du Zeichen,
die niemand deuten kann,
geheime Male
von fernen Stunden krank
und leerst die Schale,
aus der ich vor dir trank.

Gottfried Benn (1927)

••• Zum Schlussstück des „Anderen Blau“ nun eines meiner liebsten Benn-Gedichte. Im „Libellenflügel“ spielte es eine gewisse Rolle.

Ein Tag ist zu Ende,
die Reifen fortgebracht,
dann spielen noch zwei Hände
das Lied der Nacht

Diese Zeilen fielen Daniel ein, als er in einer seiner schlaflosen Nächte durch die dünne Wand Ninas Klavierspiel hörte. Und die geheimen Male scheinen mir heute passend zum Schlussstück:

Was immer du warst in meinem Traum, in meinen Wünschen – jetzt bist du ein schwarzer Mann. Dein Mantel ist schwarz, und die Mütze ist schwarz, selbst der Schal und die Augen wie Kohlen. Aber was ich Schwarz nenne, ist nur ein anderes Blau für den Himmel. Es gehört dir nicht, es gehört mir nicht. Es ist blau.

Ich danke den vielen Blau-Lesern und -Hörern, die mir und dem Text über die letzten Wochen die Treue gehalten haben. Das bedeutet mir viel.

Ein Angelico

3. Mai 2007

Stefan George 1910 - Foto: Jakob Hilsdorf

Auf zierliche kapitel der legende
– Den erdenstreit bewacht von ewgem rat •
Des strengen ahnen wirkungsvolles ende –
Errichtet er die glorreich grosse tat:

Er nahm das gold von heiligen pokalen •
Zu hellem haar das reife weizenstroh •
Das rosa kindern die mit schiefer malen •
Der wäscherin am bach den indigo.

Der herr im glanze reinen königtumes
Zur seite sanfte sänger seines ruhmes
Und sieger der Chariten und Medusen.

Die braut in immerstillem kinderbusen
Voll demut aber froh mit ihrem lohne
Empfängt aus seiner hand die erste krone.

Stefan George, aus: „Hymnen Pilgerfahrten Algabal“

••• Stefan George war ohne Zweifel der präsenteste Lyriker des ersten Viertels des letzten Jahrhunderts. Begonnen hat er sein öffentliches Wirken mit exklusiven Privatdrucken von 100 bis 300 Exemplaren. Ende der zwanziger Jahre waren die Buchhandlungen dann voll mit seinen Werken, und selbst die Antiquariate boten seine Bände in Mengen in verlagsneuem Zustand zum Kauf. Das war Marksättigung auf hohem Niveau.


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die strände die welle

2. Mai 2007

für Undine Materni

Unsicher stehn wir auf den herzen der freunde Am strand stirbt der wind wenn er rastet wie Wir stürzen entkräftet ins meer Für sekunden ruhen wir atemlos aus Den kopf ins seegras geschmiegt Nimmt uns die welle kühl den staub von den stirnen Fort ist auch sie Müde des ansturms gegen die küsten Der matte schimmer den wir bemerkten auf ihrem verflachenden kamm War nur der widerschein helleren leuchtens In uns Wohin ihre kühle nicht reicht

© Benjamin Stein (1988)

••• Die Auflösung schreitet voran. Das „Andere Blau“ bewegt sich aufs Finale zu. Dieses Gedicht aus dem Off markiert das letzte Innehalten vor dem Abschied von Nadia und Richard. Geschrieben wurde es 1987 oder 1988 für Undine Materni.

Schon im „Libellenflügel“, dem Vorversuch zum „Anderen Blau“, hätte dieses Gedicht dieselbe Funktion haben sollen, die der Synkope vor dem Finale. „Der Libellenflügel“ endete am Meer…

Den Wellen zu

du mußt bleiben, sagt eine stimme, hier.

doch ich weiß, wer spricht; und ich höre nicht mehr auf die stimme. hinaus will ich, den wellen zu. ich kann nicht glauben, daß ich sie nicht mehr verstehen soll. so muß ich vorwärts, bis sie meine füße umspülen, den sand fort unter meinen nackten sohlen, wenn sie zurückfluten, als wollten sie mich zu fall bringen.

sie wollen mich nicht, denke ich. und ich gehe dennoch, weiter, fort von dem strand, hinaus in das wasser, hinaus in die weite…

die möwe fliegt auf von meiner schulter, fort, zieht einsam weite kreise über dem meer.

Aus dem Meer ist im „Blau“ ein See geworden. Aus der Einsamkeit eine Gemeinsamkeit. Oder ist es am Ende doch nur ein fremdes Nebeneinander? In zwei Tagen werden wir es wissen.