Exorbitant oder gar nicht

15. Mai 2007

Mittelmäßige Romane sind nicht so unerträglich, sie können unterhalten, belehren, spannend sein, aber Lyrik muß entweder exorbitant sein oder gar nicht. Das gehört zu ihrem Wesen.

Gottfried Benn

Gottfried Benn••• Letzte Woche kam Post vom Herrn H. aus H. – ein schmales antiquarisches Bändchen mit einer Poetik-Vorlesung, die Gottfried Benn am 21. August 1951 an seiner einstigen Alma Mater in Marburg hielt: „Probleme der Lyrik“. Das war sehr nett vom Herrn H. Ich habe mich gefreut und sende gern Grüsse zurück vom Herrn St. aus M.

Ich mag antiquarische Bücher, besonders wenn die Vor-Besitzer darin Anstreichungen hinterlassen haben – mit Bleistift natürlich. Das sind jene, die dem Buch noch Achtung entgegenbringen und davon ausgehen, dass sie es später noch viele Male zur Hand nehmen werden und die wichtigen Stellen, an die sie sich zumindest noch ungefähr erinnern, schnell zu finden hoffen.

Dieses Buch nun hat mir eine halbe Stadtrundfahrt beschert. Ich war so in die Lektüre vertieft, dass ich auf dem Weg ins Büro in die falsche U-Bahn eingestiegen und bis zur Endstation durchgefahren bin, ohne es zu merken. Bis zurück zum Umsteigebahnhof dauerte es 20 Minuten, bis zum Büro schliesslich noch einmal 15. So bekam ich diese Vorlesung wenigstens am Stück zu lesen.

Benn hat uns manch Verblüffendes über Lyrik zu sagen. Ich glaube, ich werde noch öfter auf ihn und diese Vorlesung zurückkommen. Für heute will ich es bei dieser Mahnung an die Lyriker belassen. Ich gestehe, ich lese Lyrik auch ganz in diesem Sinne. Ich kann nicht anders.

Das macht mich zu einem undankbaren Leser, ich weiss.

Gangstertugend

14. Mai 2007

Sir Ben Kingsley

••• Sagte gestern Sir Ben Kingsley in einem Film:

Mein Vater sagte einmal zu mir: Wenn dich einer einen Ochsen nennt, hau ihm aufs Maul. Wenn er dich nochmal einen Ochsen nennt, frag ihn, wie er das meint. Nennt er dich zum dritten Mal einen Ochsen, wird es Zeit, einen Stall zu suchen.

Sir Ben Kingsley spielt in diesem Film einen Gangsterboss. Für so einen entscheidet die Gabe, Situationen richtig einzuschätzen, über Leben und Tod. In weniger gefährlichen Berufen bleibt man als Ochse am Leben.

Die Scheibe

14. Mai 2007

Ein Gastbeitrag von Markus A. Hediger
zu „Die Scheibe“ von Jorge Luis Borges

Crowley Tarot - Ace of Discs••• Ich fürchte, ich bin mit meinem ersten Beitrag über die Begegnung mit dem Phantastischen in Borges Erzählungen zu forsch vorgeprescht und habe es versäumt (wie in den Kommentaren von Michael Perkampus auch zu recht moniert wurde) den Begriff des Phantastischen bei Borges enger einzufassen. Ich will dies anhand der sehr kurzen Erzählung „Die Scheibe“ nachholen. Darin spielt Religion nur am Rande eine Rolle, was mich vor eben jenen Ausschweifungen bewahren wird, die mich in Teufels Küche bringen. Sie veranschaulicht aber sehr genau, was das Phantastische bei Borges ausmacht. Ich werde eine Definition in meiner Rolle als Leser versuchen – nicht als Germanist und ohne Rückgriff auf eine der zahlreichen Literaturmodelle, die es zur Phantastischen Literatur gibt. Bei Borges geht es immer auch um das Lesevergnügen. Wer Spass an der Lektüre hat, hat den Weg in den Text hinein schon gefunden. Dort muss er sich lediglich umsehen, um zu erkennen, worin sein Reiz liegt. Lesen, eintauchen, schauen, Spass haben: das ist die Methode, die ich hier anwenden möchte.


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Modus Duellandi

13. Mai 2007

••• In der letzten Woche gab es hier einen Schlagabtausch, der mich persönlich noch immer beschäftigt. Vorher und nachher gab es in dieser Debatte einige zu moderierende Kommentare. Diese Art Zensur ist mir nicht leicht gefallen. Wie es hier auch zugehen kann, das konnte man in den letzten Tagen sehen: fruchtbare Debatten, erhellende Kommentare. Und niemand kam dabei persönlich zu Schaden.


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Zimzum und Urknall

13. Mai 2007

Eine Antwort an Markus A. Hediger in Hanging Lydia

••• Lieber Markus, zunächst muss ich anmerken, dass ich – obgleich orthodoxer Jehudi – doch kein Dogmatiker bin. Das Judentum hat keine zentrale, dogmengebende Instanz; und ich sage an dieser Stelle bewusst nicht, sie würde fehlen. Insofern erscheint mir der flammend geführte Streit zwischen Kreationisten und Evolutionisten nicht nur selbstherrlich, sondern auch ganz und gar unfruchtbar. Der Streit verkennt, dass beide „Fraktionen“ den Beweis ihrer jeweiligen Urannahme schuldig bleiben müssen. Wären die Mystiker – gleich welcher Couleur – lediglich Dogmen gefolgt, hätten sie sich nur mit jener Kategorie Fragen beschäftigen können, wie viele Erzengel etwa Platz fänden auf einer Nadelspitze.

Meine grösste Frage, die sich aus Deinem Beitrag ergibt, ist: Du beschreibst Schöpfungsmethoden, die einen bereits existierenden Raum voraussetzen. Wird dies in der jüdischen Mystik so gesehen? War die Welt (ganz materiell gesehen) schon immer? Und wird Gott als jener betrachtet, der als erster von ihr „erzählte“?

Zur Antwort auf Deine Frage: Nein, so war das nicht gemeint. Wenn ich sage „Was ich erzähle, geschieht“, rede ich vom Jetzt und Hier. Ich meine nicht, dass die „Welt (ganz materiell gesehen) schon immer“ war und G’tt lediglich als „erster von ihr erzählte“.

Der Sohar – ein deutlich jüngeres mystisches Werk als das Sefer Yetzirah – beschreibt den „Vorspann der Genesis“ als einen den Urknall-Theorien verblüffend ähnlichen Vorgang, der als Zimzum bezeichnet wird.


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Was ich erzähle, geschieht

13. Mai 2007

Eine Erwiderung auf Markus A. Hediger: „Spiegel und Maske“

••• Von der „Sprache Gottes“ war die Rede im Gastbeitrag „Spiegel und Maske“ von Markus A. Hediger. Und all jene, die meinen Roman „Das Alphabet des Juda Liva“ gelesen haben, wird es nicht verwundern, dass ich auf die Spekulationen in diesem Beitrag antworten muss. Der Roman verdankt seinen Titel einem fiktiven Kommentar des Rabbi Löw von Prag zu einem der wichtigsten Texte der jüdischen Mystik, dem Sefer Yetzirah (Buch der Schöpfung). Dieser Text beschreibt die 22 Buchstaben (Sefarim) des hebräischen Alphabets zuzüglich der 10 Sefirot (evtl. übersetzbar mit Sphären und vom gleichen Wortstamm SFR wie Buchstabe) als die Werkzeuge G’ttes bei der Schaffung der uns bekannten Welt.

Ungezählte Kommentare existieren zu diesem Buch. Und der fiktive Kommentar, dem der Roman seinen Namen verdankt, kommt zu dem kühnen Schluss, dass mittels der selben Buchstaben die Welt auch veränderbar, die Schöpfung in ihrer Existenz beeinflussbar sei. Der Erzähler des Prologs spricht ganz in diesem Sinne auch deutlich aus, welche Macht er dem Buchstaben und den daraus gewebten Erzählungen zumisst: „Was ich erzähle geschieht, nicht umgekehrt.“ Und damit spricht er mir als Autor aus dem Herzen.

Das Hebräische wird ohne Vokale geschrieben. Bei vielen Worten gibt es daher einen Deutungsspielraum, welches Wort der Autor tatsächlich zu schreiben wünschte. Es verwundert nicht, dass ein mystischer Text voll ist von solchen für die Interpretation offenen Schreibweisen. Eine dieser Stellen möchte ich in Annäherung an die Frage nach der „Sprache Gottes“ näher beleuchten, weil sie mein Verständnis von „Realität“ und Literatur, die „Realitäten“ beschreibt, ganz massgeblich bestimmt.


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Das böse Kind als alter Mann

11. Mai 2007

Er hat noch immer diesen Blick
er will noch immer töten
der aus dem Anbeginn der Föten
dem ungeschiedenen Schlick

sich zäh und bös herausgelöst
der langsam, durstig, niemals satt
sich aus dem Ich gerichtet hat
und uns entblößt.

So frei der alte Mann und so allein
so stolz und so erbarmungslos
blieb er erbarmungslos gemieden

und will noch immer keinen Frieden
steht an der Pforte, würgt den Raucherkloß
laut raus. Und rotzt ihn auf den Stein.

© Alban Nikolai Herbst (2007)

••• Für Alban Nikolai Herbst beginnt heute der Countdown. Am morgigen Samstag wird er in der wundervollen Villa des Literarischen Colloqium Am Sandwerder in Berlin zum Finale um den diesjährigen Döblin-Preis antreten. Courage hat er; die muss man ihm nicht wünschen. Was man ihm wünschen kann: eine gute Hand gehabt zu haben bei der Auswahl aus den 1000 Seiten seines Roman-Typoscripts, um die ihm zugestandenen 25 Minuten des Wettlesens zu bestreiten. Und überhaupt: Hals und Beinbruch! So sagt man doch – auf dem Theater. Das sei ihm von Herzen gewünscht.

Aber es war nicht Prosa, über die ich an einem der letzten Tage in seinem Weblog gestolpert bin; nein, es war – ein Sonett.


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