Der Gehenkte

20. Mai 2007

Galgen

Der Frager:
Den ich vom Galgen schnitt • wirst du mir reden?

Der Gehenkte:
Als unter der verwünschung und dem schrei
Der ganzen stadt man mich zum tore schleppte
Sah ich in jedem der mit steinen warf
Der voll verachtung breit die arme stemmte
Der seinen finger reckte auf der achsel
Des vordermanns das aug weit aufgerissen •
Dass in ihm einer meiner frevel stak
Nur schmäler oder eingezäunt durch furcht.
Als ich zum richtplatz kam und strenger miene
Die herrn vom rat mir beides: ekel zeigten
Und mitleid musst ich lachen: ‚ahnt ihr nicht
Wie sehr des armen sünders ihr bedürft?‘
Tugend – die ich verbrach – auf ihrem antlitz
Und sittiger frau und maid • sei sie auch wahr •
So strahlen kann sie nur wenn ich so fehle!
Als man den hals mir in die schlinge steckte
Sah schadenfroh ich den triumf voraus:
Als sieger dring ich einst in euer hirn
Ich der verscharrte .. und in eurem samen
Wirk ich als held auf den man lieder singt
Als gott .. und eh ihrs euch versahet • biege
Ich diesen starren balken um zum rad.

Stefan George

••• Kein gutes Wort über Stefan George bislang. Gerecht ist das nicht und wird ihm nicht gerecht. Daher heute ein Gedicht, an dem ich mich festgelesen habe. Plastisch, philosophisch, poetisch und unverkennbar George.

Blue Intelligence

18. Mai 2007

••• Die Veröffentlichung des „Anderen Blau“ hier im Turmsegler war mit einem Experiment verbunden. Der gesamte Text sowie die einzelnen Stimmen wurden in RSS-Feeds und über Tag-Seiten veröffentlicht sowie als Podcast eingelesen. Als Business Intelligence Consultant interessierten mich da natürlich auch Zahlen: Wie werden die unterschiedlichen Präsentationsformen angenommen? Ist die Publikation via Feeds und die Web-Darstellung nach Blog-Art (also die letzten Beiträge zuerst) für solche Art von Texten geeignet?

Schauen wir also einmal auf ein paar Zahlen.


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Vergleich ich dich mit einem Sommertag?

18. Mai 2007

Shall I compare thee to a summer’s day?
Thou art more lovely and more temperate:
Rough winds do shake the darling buds of May,
And summer’s lease hath all too short a date:
Sometime too hot the eye of heaven shines,
And often is his gold complexion dimmed,
And every fair from fair sometime declines,
By chance, or nature’s changing course untrimmed:
But thy eternal summer shall not fade,
Nor lose possession of that fair thou ow’st,
Nor shall death brag thou wander’st in his shade,
When in eternal lines to time thou grow’st,
So long as men can breathe, or eyes can see,
So long lives this, and this gives life to thee.

Vergleich ich dich mit einem Sommertag?
Du hast mehr Maß und größre Lieblichkeit.
Die Maienknospe, die verzärtelt lag,
Schlägt rauher Wind; kurz währt des Sommers Zeit.
Des Himmels Auge brennt manchmal zu heiß,
Sein goldnes Antlitz, oft trübt sich’s für lang.
Und alles Schöne gibt die Schönheit preis,
Sei’s Zufall, sei’s des Wandels kruder Gang.
Doch nie soll deines Sommers Pracht ermatten,
Nie soll zerschleißen deiner Schönheit Kleid,
Nie Tod sich brüsten, daß in seinem Schatten
Du gehst: Im Vers zwingst du die Sterblichkeit.
Solang ein Mensch noch atmet, Augen sehn,
Solang dies steht, so lang wirst du bestehn.

William Shakespeare, Sonett Nr. XVIII
Übertragung: Christa Schuenke
© der Übertragung Straelener Manuskripte Verlag 1994

••• Mit Stefan Georges Übertragung dieses Sonetts konnte meine Frau sich gar nicht anfreunden. Als sie das Original gelesen hatte, meinte sie: So ein schönes Gedicht; und was ist in der Übertragung davon übrig geblieben?

So streng würde ich mit George nicht umspringen wollen. Aber tatsächlich liest sich die Übersetzung von Christa Schuenke da schon ganz anders und fängt, wie ich meine, deutlich mehr von der ursprünglichen Atmosphäre dieses Sonetts ein. Aus diesem Grund hier – speziell für meine Herzdame – das Sonett Nr. XVIII von Shakespeare noch einmal, diesmal übersetzt von Christa Schuenke.

Sprache und Gleichzeitigkeit

17. Mai 2007

Das Kernproblem des Schriftstellers ist die Sprache. Sie ist ihrem Wesen nach sukzessiv, sie schildert, wie die aristotelische Zeit, ein Vorher und ein Nachher und vermittelt damit dem Leser einen vollkommen falschen Eindruck, da jedes Ereignis in Wirklichkeit der Simultanität folgt. Erst, wenn es einem Autor gelänge, in einem einzigen Satz, in einem einzigen Wort, alles zugleich zum Ausdruck zu bringen, hätte er das Problem der Sprache bewältigt.

Michael Perkampus

••• Ich bin polyglott. Etwa 14 Sprachen schreibe und lese ich fliessend. [Angeber!] Nur nützt mir das leider nichts, was die Dichtung betrifft. Denn fast alle diese Sprachen bestehen nur aus Befehlen, mit denen man Maschinen lebendig machen kann. Aber dichten?

Nun finde ich Programmiersprachen mit ihren schönen Strukturen, runden und geschweiften Klammern, den Zeichenhäufungen zwischen kategorischen Anweisungen ungemein poetisch. Ich fürchte aber, dass kaum jemand dieses Empfinden mit mir teilt. Es ist doch eine recht spezielle Vorliebe.

Die oben zitierten Sätze im Sinn, fällt mir an diesen (literarisch verkannten) Sprachen zweierlei auf. Erstens: Programmiersprachen kennen ausschliesslich eine Zeitform – die Gegenwart. Dennoch werden Abläufe gestaltet.

Und zweitens: Gleichzeitigkeit ist in der Programmierung eine Illusion. In Wirklichkeit erfolgt die Ausführung von Programmcode immer sequentiell. Die zur Verfügung stehende Prozessorzeit wird vom Betriebssystem in Zeitscheiben geteilt, die den vemeintlich parallel ausgeführten Programmen zugeteilt werden. Ist die zugeteilte Zeit verbraucht, wird das Programm unterbrochen; und das Code-Fragment, dem die nächste Zeitscheibe zusteht, kommt zur Ausführung. Die Illusion der gleichzeitigen Ausführung entsteht lediglich dadurch, das der Zyklus von Unterbrechung und Fortsetzung der Ausführung hinreichend kurz ist, um uns darüber zu täuschen, was tatsächlich geschieht.


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spa_tien

16. Mai 2007

Spatien – das sind die Leerräume zwischen den Worten in einem Text. Oder auch die Leerstellen, die der Leser durch die Interpretation in einem Text auffüllt. Der Ort also, wo die ganze Action stattfindet.

spatien - zeitschrift für literatur••• Schon kurze Zeit, nachdem ich mich mit dem Turmsegler auf die Suche nach Entdeckungen in der Online-Literatur gemacht hatte, stiess ich regelmässig auf das blassbläuliche Banner von litblogs.net. In der Regel waren das Blogs, die ich nach kurzem Stöbern in den Feed-Reader übernahm, um sie zu beobachten. Geklickt habe ich auf das Banner allerdings nie. Auch über das zweite Banner – das sich häufig in direkter Nachbarschaft zu dem von litblogs.net befand – huschte ich mit der Maus hinweg: das von spa_tien. Das schreibe ich meiner Aversion gegen Werbung in Blogs zu. So jedenfalls bin ich um manche Entdeckung zielgerichtet herumgesurft.

Glücklicherweise ist es dabei nicht geblieben. Unterdessen war „Das andere Blau“ und ist nun auch der Turmsegler selbst im Metablog von litblogs.net gelistet. Und die Literaturzeitschrift spa_tien, die von den litblogs.net-Initiatoren Hartmut Abendschein und Markus A. Hediger halbjährlich herausgegeben wird, kam mir „druckfrisch on demand“ vor etwa acht Wochen via lulu.com ins Haus. Seitdem will ich darüber schreiben. Doch es kam bislang nicht dazu. Mit dem Heft, das man übrigens auch online lesen kann, hat das allerdings nichts zu tun.


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Nachlese zu Gottfried Benn

15. Mai 2007

••• In den Kommentaren zum Benn-Beitrag von heute habe ich zwei Gedanken aus der Vorlesung aus dem Gedächtnis wiedergegeben. Die Originalzitate wollte ich nicht schuldig bleiben:

[…] die Öffentlichkeit lebt nämlich vielfach der Meinung: da ist eine Heidelandschaft oder ein Sonnenuntergang, und da steht ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholische Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht. Nein, so entsteht kein Gedicht. Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht. Wenn Sie vom Gereimten das Stimmungsmäßige abziehen, was dann übrigbleibt, das ist dann vielleicht ein Gedicht.

Und zum Beweis der Fragwürdigkeit des Paraphrasierens aus dem löchrigen Gedächtnis:

[…] – und nun kommt das Rätselhafte: das Gedicht ist schon fertig, ehe es begonnen hat, er [Anm.: der Dichter] weiß nur seinen Text noch nicht. Das Gedicht kann gar nicht anders lauten, als es eben lautet, wenn es fertig ist. Sie wissen ganz genau, wann es fertig ist, das kann natürlich lange dauern, wochenlang, jahrelang, aber bevor es nicht fertig ist, geben Sie es nicht aus der Hand.

Aus: Gottfried Benn, „Probleme der Lyrik“ (1951)

Inhalt und Pose

15. Mai 2007

••• Interessant war es heute auch nebenan beim Herrn p.- Man ging der Frage nach, ob die Befolgung poetischer Regeln zweitranging sei, wenn nicht gar epigonal. Leider stiess Herr p.- (da Nachtarbeiter) erst spät zu den Diskutierenden. Da das Gespräch im Nebengemach stattfand und nur im RSS-Feed zu verfolgen war, reiche ich den Hinweis gern nach.