25. Mai 2007
Ein Gastbeitrag von Markus A. Hediger
zu Jorge Luis Borges
••• Nicht alle Erzählungen von Borges untermauern seinen Ruf als herausragenden Autor. Nebst den phantastischen Geschichten, für die er bekannt wurde und durch die er Weltruhm erlangte, gibt es auch die vielen anderen. Diese Erzählungen sind solides Handwerk. Gut erzählt, stilsicher geschrieben, darin unverkennbar Borges, ja, aber nichts Aussergewöhnliches. Sie erzählen von Begebenheiten, die geschehen sein könnten, aber ebenso gut nicht, es sind Präzisierungen, vorgenommen durch einen Mann, der die durch den Volksmund verbreitete Folklore in eine literarische Form einpasst. Für den Leser ist es völlig belanglos, ob die berichteten Ereignisse tatsächlich geschehen oder Erfindung sind – während der Lektüre werden sie wahr und geben keinerlei Anlass, an ihnen zu zweifeln. Die Wirklichkeit des Berichteten ist die Wirklichkeit des Lesers. Ich denke da zum Beispiel an „Der Tote“, „Die Narbe“ oder „Die Geschichte des Rosendo Juárez“. Einigen seiner Erzählungen schreibt Borges persönlich eine realistische Qualität zu.
Und dann gibt es da die anderen Erzählungen, in denen die Wirklichkeiten ineinander greifen, ineinander wirken und die Wirklichkeit des Lesers – zumindest während der Zeit der Lektüre – in Frage stellt. „Das Aleph“, zum Beispiel, beginnt mit einer langatmigen Schilderung einer nervtötenden Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und einem Dichter furchtbar schwülstiger und pompöser Werke, man fragt sich als Leser, wohin die Erzählung führen soll, dann diese Passage:
Nun komme ich zum unsagbaren Mittelpunkt meines Berichts; hier beginnt meine Verzweiflung als Schriftsteller. Alle Sprache ist ein Alphabet aus Symbolen, deren Anwendung eine den Gesprächspartnern gemeinsame Vergangenheit voraussetzt; wie soll ich anderen das unendliche Aleph mitteilen, das mein furchtsames Gedächtnis kaum erfasst? […] In diesem gigantischen Augenblick habe ich Millionen köstlicher und grässlicher Vorgänge gesehen; keiner erstaunte mich so sehr wie die Tatsache, dass sie alle in demselben Punkt stattfanden, ohne Überlagerung und ohne Transparenz. Was meine Augen sahen, war simultan: was ich beschreiben werde, ist sukzessiv, weil die Sprache es ist.
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Tags: Jorge Luis Borges • Markus A. Hediger • Gastbeiträge • Prosa
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24. Mai 2007
••• Zu den schönsten Momenten meines Bloggerdaseins gehört es, wenn Autoren, die hier besprochen wurden, höchstselbst dem Turmsegler einen Besuch abstatten und dabei auch noch einen Kommentar hinterlassen. In der Debatte um die Übersetzungen der Shakespeare-Sonette hat sich nun Christa Schuenke zu Wort gemeldet. Ich werde es mir nicht nehmen lassen, Sie nach ihrer Meinung zur Weinert-Übertragung der Sonette zu befragen. Die Grundannahmen beider Übersetzer sind ja sehr unterschiedlich…
Nachtrag: Es sieht so aus, als würde Christa Schuenke sich zu einem Gastbeitrag hinreissen lassen. Aber es kann ein paar Wochen dauern, sagt sie. Ich warte gern…
Tags: Christa Schuenke • Sonette • Lyrik
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22. Mai 2007
••• Zwei Tage Pause von der Literatur. Wir feiern Shavuot, das Fest der Übergabe der Torah. Da gibt es wenig Schlaf, doch viel zu lernen. Die ganze Nacht werden wir überm Talmud sitzen, zur Vermehrung der Einsichten und Mysterien.
Rav Chisda sagte: Mari ben Mars legte aus: Was bedeutet es, daß geschrieben steht: Aller Vollendung sehe ich eine Grenze, überaus weit ist dein Gebot? Dies Wort sagte David, aber erklärte es nicht. Hiob sagte es, aber erklärte es nicht. Jecheskiel sagte es, aber erklärte es nicht. Bis Secharja ben Iddos kam und es erklärte. […] Denn es steht geschrieben: Da sprach er zu mir: Was siehst du? Ich sagte: Ich sehe eine zusammengefaltete Rolle, zwanzig Ellen lang und zehn Ellen breit. Und wenn du sie auseinanderfaltest, so ist sie zwanzig auf zwanzig. Und da geschrieben steht: Sie war auf der Vorderseite und auf der Rückseite beschrieben, und wenn du sie dann spaltest, wie groß ist sie? Vierzig auf zwanzig. Und da geschrieben steht: Wer mißt mit seiner hohlen Hand die Wasser und bestimmt die Himmel mit der Spanne…? so findet man, daß die ganze Welt ein dreitausendzweihundertster Teil der Torah ist.
Talmud Bavli, Traktat Eruvin 21a
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22. Mai 2007
••• Vorgestern kam ein dickes E-Mail-Paket von Undine Materni. Darin unter anderem eine Neuübersetzung der Shakespeare-Sonette. Sie stammt von Jan Weinert, geboren 1963 in Jena und selbst umtriebiger Lyriker und Erzähler. Einmal begonnen, konnte ich nicht aufhören zu lesen; und eines ist klar: Diese Übertragung verdrängt für mich nun jene von Frau Schuenke ganz gründlich. Der Hauptgrund ist die ungeheure Textnähe, die Weinert in seiner Nachdichtung gelingt. Doch ganz nah ist Weinert dem Original auch in der musikalischen Stimmung der Sonette.
Letzteres konnte ich nur erfühlen, ohne es genauer belegen zu können. Glücklicherweise lieferte mir Undine Materni auch die Erklärung: männliche und weibliche Reime.
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Tags: Jan Weinert • Sonette • William Shakespeare • Lyrik
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21. Mai 2007
••• Eben schickt mir Markus A. Hediger eine Depesche betreffs seiner Borges-Beiträge im Turmsegler:
Ich habe eben (in einem Prozess intensiver Selbstbefragung!) verstanden, weshalb Borges für mich so eng mit dem Christentum verbunden ist (o Schande über mich…): Ich entdeckte Borges während der heftigsten Phase meiner Glaubenskrise, und da wirkte er auf mich wie eine Erlösung…
Bitte lösch meine bisherigen Gastbeiträge. Ich schreibe neue…
Die alten Beiträge zu löschen, das kann ich freilich nicht billigen. (g*) Auf die neuen Beiträge freue ich mich hingegen sehr. „Aufräumarbeiten“ stünden an im eigenen Borges-Verständnis. Er berichtet sicher selbst auf „Hanging Lydia“ davon.
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21. Mai 2007
••• Da berichtet heute Herr Paulsen nebenan beim Don von einem einem kleinen Vortrag seines Arztes:
Also das ist so. Das kann man so machen. In dem Tempo. Aber nicht lang. Wenn Sie Kinder bekommen, dann hält die Ehe noch bis die Kids in der Pubertät sind. Dann trennen sie sich, ihre Frau wird sich daraufhin selbst verwirklichen oder tablettensüchtig, das kann ihnen aber egal sein, weil sie kurz nach ihrem 50sten Geburtstag den ersten Infarkt bekommen. Dieses Stadtviertel ist voll mit Menschen wie ihnen, das hab ich hier jeden Tag. Nehmen sie sich Zeit für sich, nehmen sie sich Zeit für ihre Partnerin! Schönen Tag noch.
Ich weiss schon, warum ich nicht zum Arzt gehe. Mit 17 glaubte ich, eh nie 30 zu werden; und es hat mich nicht beängstigt. Heute frage ich mich manchmal bang, wie viel Zeit mir wohl zugestanden wird, hoffe auf drei Leben. Die könnte man dann alle an sich vorbeiziehen lassen, ganz geschwind, ganz idiotisch.
Das kann man so machen. In dem Tempo. Aber nicht lang.
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20. Mai 2007
Was ist schon ein Bankraub verglichen mit der Gründung einer Bank?
••• Mir hallte heute zum wiederholten Male ein verzerrtes Echo dieses Bonmots durch den Kopf: Was ist schon ein Verlagsvertrag verglichen mit der Gründung eines Verlages? Nun wird man nicht über Nacht Verleger. Aber man darf schon einmal die Gedankenübung unternehmen, sich vorzustellen, dass man es sei und sich ein paar Fragen stellen.
Als erstes drängt sich die Frage auf, was für ein Programm einem da vorschwebte. Das ist leicht zu beantworten. Poetische Prosa von Dichtern, intensive Texte aus dem Epizentrum eines starken lyrischen Ich. Das ist zugleich deutlich und verschwommen genug.
Frage Nummer 2: Wie sollten diese Bücher denn aussehen, und was dürften sie kosten? Eine Hardcover-Reihe sollte es sein mit schlichtem, edlen Auftritt. Inmitten des knallbunten Geschreis mit Understatement Aufmerksamkeit erregen. Kosten darf so ein Buch nicht mehr als 19.90 € bei 100 bis 250 Seiten. Umfangreichere Texte sind – zumindest in dieser Sparte – eh obszön. Das ist eindeutig eine kalkulatorische Herausforderung. Aber das Hardcover zu opfern… – In den nächsten Tagen kommen mir Prototypen von Hardcover und Paperback-Option ins Haus. Dann wird man weiter sehen.
Drittens wäre zu klären, wie man ein solch unwirtschaftliches Unternehmen so finanziert, dass es sich zumindest selbst trägt und es erlaubt, den Autoren wenigsten 1 € pro Buch als Tantieme anbieten zu können.
Die vierte Frage schliesslich: Warum sollte ein Autor mir Greenhorn sein Werk anvertrauen, um es auf den Markt zu bringen?
Nun bin ich selbst Autor und sollte also, was die letzte Frage angeht, mir selbst ein guter Indikator sein können. Allerdings fürchte ich, dass ich mit meinem Businesshintergrund etwas anders ticke als die meisten Autoren. Mir selbst käme es beispielsweise nicht mehr in den Sinn, von Literatur leben zu wollen. Was also hätte ich anzubieten? bleibt die Frage, die zu klären ist.
Ist die nämlich beantwortet, ist Frage Nummer 3 sekundär. Da liesse sich ein Modell finden.
Tags: lulu • Ausser der Reihe
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