Leere Dosen

22. Juni 2007

„Ich singe weil ich ein Lied hab“, sang Konstantin Wecker vor langer Zeit aus voller Brust an der vollen Brust von Mercedes Sosa. Peter Pan konnte fliegen, weil er einen schönen Gedanken hatte. Der Gedanke trug den Namen seiner Liebsten. Auch heute wird gesungen und geflogen. Höher denn je. Aber nicht, weil man ein Lied hat, sondern weil man singen kann. Und der schöne Gedanke gilt nicht der Geliebten, sondern schlicht der Fähigkeit, einen schönen Gedanken zu haben […]

Sven K. in daily ivy

••• Was ich gestern bei Sven K. in „daily ivy“ las, korrespondiert – kurz und prägnant gefasst – mit meinem Empfinden bei der Urlaubslektüre. Was hatte ich dabei? Eine berühmte (aber unerfreuliche) französische Prosa. Eine auch berühmte, grandiose französische Prosa (von der ich in Kürze ausführlich berichten werde), ein Sachbuch (Richard Dawkin: „The Blind Watchmaker“ [Why the evidence of evolution reveals a universe without design]) und – die Sonderausgabe der Literaturzeitschrift „BELLA triste“ zur deutschsprachigen Gegenwartslyrik.

In dieser sehr liebevoll gestalteten Sonderausgabe werden 28 jüngere Gegenwartslyriker vorgestellt, also etwa Ulrike A. Sandig, Ron Winkler und Nico Bleutge statt Durs Grünbein oder – er wird das hoffentlich nicht persönlich nehmen – Alban Nikolai Herbst. Ausgewählten Gedichten sind Essays anderer Autoren zum jeweiligen Autor beigegeben. Jehr mehr ich las, desto lustloser wurde ich und ratloser. Und mir war auch sehr schnell klar, woher dieses Missbehagen, das allerdings gelegentlich auch ganz verflog, kam: Technisch und artistisch geht es zu in dieser jungen deutschen Gegenwartslyrik. „Experimentell“ oder „besonders genau“ geht es zu. Das Wie beherrscht das Was.


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Erweiterte Familie

21. Juni 2007

Ich habe phantastische Bücher in mieserabler, nordamerikanischer Taschenbuchqualität gelesen und ich habe die Lektüre genossen. Ich habe – andererseits – mich von wunderschön gebundenen Hanser-Ausgaben zum Kauf verführen lassen und war enttäuscht. Was ist mir lieber?

Markus A. Hediger in den Kommentaren zu „Postberge“

••• Ich möchte, lieber Markus, ja beides zusammen! Weil ich mit Büchern lebe. Wenn ich die Lektüre genossen habe, soll das Buch bei mir bleiben. Getreu dem Motto: Ein Buch, das nicht wert ist, mehrfach gelesen zu werden, ist es auch nicht wert, ein Mal gelesen zu werden.


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Postberge

20. Juni 2007

••• Als Jugendlicher habe ich noch viele Briefe geschrieben und entsprechend viele Briefe erhalten. Das Schönste am Heimkommen aus den Ferien war der Poststapel, der jeweils auf mich wartete.

Auch heute erwartete uns viel Post, als wir aus Spanien heimkehrten: Briefe, Päckchen, Pakete. Auf die Briefe hätte ich gern verzichtet. Ihr Inhalt kreiste fast ausschliesslich um Zahlen. Die Päckchen verhiessen Erfreulicheres. Sie kamen von amazon und Lulu. Paul Austers Gedichtband „Vom Verschwinden“ wartet jetzt darauf, durchstöbert zu werden. Darauf freue ich mich. Die Lulu-Sendung hingegen war enttäuschend.


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Die Ratten

19. Juni 2007

In Hof scheint weiß der herbstliche Mond.
Vom Dachrand fallen phantastische Schatten.
Ein Schweigen in leeren Fenstern wohnt;
Da tauchen leise herauf die Ratten

Und huschen pfeifend hier und dort
Und ein gräulicher Dunsthauch wittert
Ihnen nach aus dem Abort,
Den geisterhaft der Mondschein durchzittert

Und sie keifen vor Gier wie toll
Und erfüllen Haus und Scheunen,
Die von Korn und Früchten voll.
Eisige Winde im Dunkel greinen.

Georg Trakl (1887-1914)

Die Raben

17. Juni 2007

Über den schwarzen Winkel hasten
Am Mittag die Raben mit hartem Schrei.
Ihr Schatten streift an der Hirschkuh vorbei
Und manchmal sieht man sie mürrisch rasten.

O wie sie die braune Stille stören,
In der ein Acker sich verzückt,
Wie ein Weib, das schwere Ahnung berückt,
Und manchmal kann man sie keifen hören

Um ein Aas, das sie irgendwo wittern,
Und plötzlich richten nach Nord sie den Flug
Und schwinden wie ein Leichenzug
In Lüften, die von Wollust zittern.

Georg Trakl (1887-1914)

Die Zeit

14. Juni 2007

»Die Zeit geht dahin«; »das Leben ist ein Strom« etc. So sprechen die Leute. Ich kann’s nicht merken: die Zeit steht stille, und ich mit ihr. Alle die Pläne, die ich entwerfe, springen gerade so auf mich selbst zurück. Will ich ausspeien, so speie ich mir selbst ins Gesicht.

Sören Kierkegaard (1813-1855)

An eine, die vorüberging

13. Juni 2007

Der Straßenlärm betäubend zu mir drang.
In großer Trauer, schlank, von Schmerz gestrafft,
Schritt eine Frau vorbei, die mit der Hand gerafft
Den Saum des Kleides hob, der glockig schwang;

Anmutig, wie gemeißelt war das Bein.
Und ich, erstarrt, wie außer mich gebracht,
Vom Himmel ihrer Augen, wo ein Sturm erwacht,
Sog Süße, die betört, und Lust, die tötet, ein.

Ein Blitz … dann Nacht! – Du Schöne, mir verloren,
Durch deren Blitz ich jählings neu geboren,
Werd in der Ewigkeit ich dich erst wiedersehn?

Woanders, weit von hier! zu spät! soll’s nie geschehn?
Dein Ziel ist mir und dir das meine unbekannt,
Dich hätte ich geliebt, und du hast es geahnt!

Charles Baudelaire

••• Vor 150 Jahren erschien die Erstausgabe der „Fleurs du Mal“ von Charles Baudelaire, eine Sammlung von 100 Gedichten, deren Bedeutung für die moderne Lyrik kaum zu überschätzen ist.

Der vorgestern erschienene „Spiegel“ widmet in seinem allzu schmalen Kulturteil diesem „Gründungsdokument der Moderne“ einen zweiseitigen Artikel. Geschrieben ist er von Michael Krüger, Geschäftsführer des Münchner Carl Hanser Verlags und Herausgeber der vorwiegend mit Lyrik befassten Literaturzeitschrift „akzente“.

Die Modernität ist das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige, ist die Hälfte der Künste, deren andere Hälfte das Ewige und Unabänderliche ist.

Dass Krüger Baudelaire ausgerechnet mit diesen Worten zitiert, kommt nicht von ungefähr. Sein kurzer Beitrag wirft im Vorbeigehen auch einen Blick auf die Moderne in der Literatur. Seine Äusserungen – etwa zu Joyce’s „Finnegans Wake“ – haben meine Sympathie; doch sie werden die Leserschaft zweifellos polarisieren.

Die Lektüre lohnt jedenfalls, eine Diskussion wohl auch. Leider ist die Internetanbindung hier im Hotel seit Tagen gestört. Diesen Beitrag sende ich vom Handy aus. Ob und wie ich mich an einer Diskussion beteiligen kann, ist daher leider ungewiss.