Verluste
26. Juli 2007George Tabori (1914 – 2007)
Ulrich Mühe (1953 – 2007)
••• Sie hätten noch Zeit haben sollen…
George Tabori (1914 – 2007)
Ulrich Mühe (1953 – 2007)
••• Sie hätten noch Zeit haben sollen…
da ich mich nun aufmachen muss, in irgendeiner weise geld zu verdienen, stelle ich meine aktivitäten als schriftsteller ein. das hatte ich in den 90igern schon einmal versucht und es ist mir zumindest drei jahre lang gelungen.
••• Abtritt als Auftritt. Die Scheinwerfer mitten ins Gesicht. Dichter, die wirklichen, mein Lieber, treten ab, wenn sie in die Grube fallen. Alles andere ist Seife. Pathetic!
••• Der Tempel brannte von Tisha b’Av die ganze Nacht hindurch, weithin sichtbar. Am 10. Av, gegen Mittag, war das Werk der zerstörerischen Horden vollendet. Deswegen gelten die Trauervorschriften in abgeschwächter Form noch bis zum 10. Av bis Chatzot, der Mitte des Sonnentages. Das war heute gegen 13.30 Uhr. Um 14:00 erhielt ich die folgende Nachricht:
Der Kuckuck ist tot. Unterm Nest, auf das er es abgesehen hatte, liegt er mit abgerissenem Kopf. Sein Blut versickert im Staub. Mag der Kadaver vermodern.
Du sihst, wohin du sihst, nur Eitelkeit auff Erden.
Was diser heute baut, reißt jener morgen ein:
Wo itzund Städte stehn, wird eine Wisen seyn,
Auff der ein Schäfers-Kind wird spilen mit den Herden;
Was itzund prächtig blüht, sol bald zutretten werden.
Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein,
Nichts ist, das ewig sey, kein Ertz, kein Marmorstein.
Jtzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.
Der hohen Thaten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn?
Ach! was ist alles diß, was wir vor köstlich achten,
Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind;
Als eine Wisen-Blum, die man nicht wider find’t.
Noch wil, was Ewig ist, kein einig Mensch betrachten!
Andreas Gryphius (1616 – 1664)
••• Heute klaue ich mal, und zwar beim Bondageprojekt, das hier schon einmal „Auf die Rolle“ genommen wurde und wo man obiges Sonett des grössten deutschen Sonettendichters des 17. Jahrhunderts auch im Podcast anhören kann.
„Zerstörung des Tempels in Jerusalem“ von Francesco Hayez
••• Heute ist Tisha b’Av, der 9. Av des hebräischen Kalenders. Es ist der Jahrestag beider Tempelzerstörungen, der Jahrestag der Niederschlagung des Bar-Kokhba-Aufstands, der Jahrestag diverser Kreuzzugsprogrome, der Jahrestag der Verteibung der Juden aus Spanien (1492), der Jahrestag der Befehlsausgabe durch Hermann Göring an SS-General Reinhard Heydrich (1941) zur „Endlösung der Judenfrage“.
In einer alten portugiesischen Synagoge in Amsterdam, so wurde mir berichtet, treffen sich die Männer in der Nacht zur Lesung der „Klagelieder“. Jeder, der eintritt, grüsst die anderen mit dem Satz: „Wir sind Tote, alle!“
„Als Kleinverleger muss man Spinner und Zocker sein und Demütigungen ertragen können“, bringt der Verleger zu Klampen des gleichnamigen Verlages seine Überlebensstrategie auf den Punkt. „Das Problem ist der Buchhandel. Die Leser sind da“, erzählt der Chef von Jung & Jung aus Salzburg. In seinem Verlag ist „Clarel“ erschienen, ein über 600 Seiten langes Gedicht von Herman Melville, dem Verfasser von „Moby Dick“. Große Verlage und der Buchhandel scheuen das Risiko, auf schwer verkäuflichen Büchern sitzen zu bleiben.
Besonders hart betroffen: Erzählungsbände deutscher Autoren und Lyrik. „Viele Verlage nehmen die Lyrik einfach aus ihren Programmen“, berichtet Daniela Seel von Kookbooks. So habe Dumont die Lyrik einfach gestrichen und die Dichter auf die Straße gesetzt. Die junge Verlegerin wirbt mit dem Slogan „Poesie als Lebensform“; Dichtung gehört für sie zum Leben.
Grit Poppe, in: „Die Nische als Lebensform“
Märkische Allgmeine vom 16.07.2007
••• Unter dem leicht irreführenden Banner „Gartenmesse“ kamen letzte Woche im Literarischen Colloqium Berlin bereits zum zweiten Mal Autoren und Kleinverleger zusammen — zum Kennenlernen, Lesen und Sinnieren übers Verlagsgeschäft in deutschen Landen.
Sollte Dichtung und Literatur jenseits des Mainstreams allgemein in Deutschland künftig noch eine Überlebenschance haben, dann — das machen die Wortmeldungen der Verleger deutlich — werden wir es den konzernunabhängigen Kleinverlagen zu danken haben, die unter hohem persönlichen Einsatz und oft am Rande des Existenzverlusts ihre Programme gestalten.
In jenen Jahren, so wissen wir, gelangt der Roman zu einer seither kaum mehr übertroffenen Meisterschaft, die Gegebenheiten des äußeren Lebens mit einer Genauigkeit abzubilden, die es uns ermöglicht, den Speiseplan einer Lübecker Kaufmannsfamilie ebenso nachzuvollziehen wie die genauen Umstände des Aufstiegs eines französischen Journalisten, die Urlaubsgewohnheiten einer Wiener Arztfamilie oder die Art und Weise, wie ein russischer Aristokrat Weihnachten feiert. Wir wissen, welche Vorbereitungen ein Ball in der britischen Provinz erfordert. Wir kennen aber auch nicht minder die Ängste eines Pragers Angestellten, die Inkonsequenzen einer Gesellschaft, die eine russische Dame am Ende unter die Eisenbahn bringen, und hören den Lügen dieser Epoche ebenso zu wie ihren Witzen, ihren Wahrheiten, ihren Traurigkeiten und ihrem Tod. Wir sind, mit einem Wort, mit dem alltäglichen Leben des Bürgers des 19. Jahrhunderts und des frühen 20. in hohem Maße vertraut.
••• Serviert Frau Modeste uns ein Roman-Quiz? (Können wir zusammentragen, auf welche Romane hier gezielt wurde?) Nein, Frau Modeste wagt sich vor in die Kritik des zeitgenössischen Prosa-Erzählens; und sie beklagt — den Mangel an realistischer Beschreibung des heutigen Alltags.
[…] spielt ein guter Teil der Gegenwartsliteratur in einer Welt, die es so nicht gibt. Die Einbettung in eine vollkommen künstliche oder schlicht nur angedeutete Umgebung enthebt den Autor der Notwendigkeit, eine realistische Darstellung der Welt zu liefern, wie sie aussieht, wie sie riecht und schmeckt, und wie diejenigen, die sich in ihr bewegen, denken, wie sie lieben, was sie ärgert, und wie sie sprechen. Das in der deutschen Kunstprosa der Gegenwart gesprochene Idiom ist vollkommen artifiziell.
Eine Welt, die es so nicht gibt? Wie glänzend Frau Modeste sich täuscht — nicht über die vemeintlich so nicht existierenden Welten in der nicht-naturalistischen, irgendwie-anders-realistischen Prosa, sondern darüber, dass die Schilderungen in all den Romanen, auf die sie oben anspielte, nichts zu tun haben mit irgendetwas wie Realität. Sie waren erfunden von ihren Autoren und ebenso glaubwürdig oder unglaubwürdig wie jede heutige Beschreibung von etwas in Form. Alle Autoren aller Zeiten haben schon immer vor allem eins: wahr-gelogen, dass sich die Balken bogen.