5. September 2007
War sie der große Engel,
Der neben mir ging?
Oder liegt meine Mutter begraben
Unter dem Himmel von Rauch –
Nie blüht es blau über ihrem Tode.
Wenn meine Augen doch hell schienen
Und ihr Licht brächten.
Wäre mein Lächeln nicht versunken im Antlitz,
Ich würde es über ihr Grab hängen.
Aber ich weiß einen Stern,
Auf dem immer Tag ist;
Den will ich über ihre Erde tragen.
Ich werde jetzt immer ganz allein sein
Wie der große Engel,
Der neben mir ging.
Else Lasker-Schüler aus: „Meine Wunder“
Verlag der Weißen Bücher, Leipzig (1914)
„Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam, im Rheinland. Ich ging bis 11 Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande, und seitdem vegetiere ich.“
••• Nach den verstörenden Träumen von gestern heute ein verstörendes Engelsgedicht vom „Prinz Jussuf von Theben“, jener Dichterin, die mit beiden Bein fest in ihren Träumen stand.
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4. September 2007
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4. September 2007
Altar of Dis-Ease – © by ~ray00@deviantart.com (2003-2007)
Ich sah im Traum dich auf der Totenbahre.
Das Zimmer, wo du lagst, war blau erhellt.
Ich trat zu dir heran wie zum Altare,
auf den das Herz das letzte Opfer stellt.
Da lagst du streng und starr. Um deine Haare
bog sich der Schmetterling des Abendrots.
Ich streute blindlings meine jungen Jahre
wie Rosenblätter über deinen Tod.
Die Welt lag wesenlos um deine Hülle,
wie ein gedehnter Schatten um das Licht,
bis alles hinschwand. – Nur dein Angesicht
hing weiß wie eine Wolke in der Stille.
Dann schlug mein Leben beide Augen zu.
Kein Raum war, und kein Ich, kein Du. Nur Ruh.
Rose Ausländer
aus: „Der Regenbogen“ (Sonette), XI
••• An manche Träume erinnert man sich sehr lebendig noch nach Jahren. In gleich zwei solchen Träumen, die mich so aufgewühlt haben, dass ich sie wahrscheinlich nie vergessen werde, bin ich zum Mörder an geliebten Menschen geworden.
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3. September 2007
Masks – © ~Stillight@deviantart.com
Wie viele Schalen, Lieb, wie viele Schichten
umgeben deinen letzten Herzenskern?
Ich schau‘ dich an, doch deine Augen flüchten
und bleiben unerreichbar wie ein Stern.
Ich kann nicht mehr – ich will dein Bild vernichten
und nicht mehr wissen, daß du warst und bist?
O, komm mir nicht mit tausenden Gesichten!
Ich weiß, daß keines deine Seele ist.
Hinweg, hinweg? Erinnerungen binden
mein hörig Herz an deinen harten Schritt.
Ich geh‘ mit dir und kann dich doch nicht finden.
Ich folge dir auf Pfaden gleich Spiralen,
und zähle nicht die Qualen, die ich litt,
da ich den Kern nicht fand, nur Schalen, Schalen.
Rose Ausländer
aus: „Der Regenbogen“ (Sonette), X
••• Diese Ohnmacht, jemandem gegenüber zu stehen, den man liebt und zu wissen: was gesehen wird von diesem anderen, hat mit einem selbst kaum etwas zu tun. Auf der Projektionsleinwand verzerrte Spukgestalten, von Vermutungen entstellt, fremd, so weit entfernt vom Ich, das da angesehen wird. Und das Erschreckendste dabei: Mitunter ist man es selbst, der sich so gegenübersteht und doch nichts erkennt. „… nur Schalen, Schalen.“
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2. September 2007
Autumn – © by *Floriandra@deviantart.com (2006-2007)
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Rainer Maria Rilke
••• Angeblich soll es Herbst werden. Ich bin noch nicht bereit. Wir sind es noch nicht. Einige südlichere Tage würden wir brauchen, um behutsam in unseren Herzen umzugehen, zu schauen, heilend die Hände aufzulegen. Bevor es kalt wird, bevor die Regentage kommen und schliesslich der Schnee.
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2. September 2007
The Weed – © ~kelc@deviantart.com (2007)
Ich ging in dich hinein wie in ein Feld
voll Sommerduft und reicher Ährenlast.
Ich baute mir in dir ein Garbenzelt
und wähnte mich in einem Goldpalast.
Die Tage flogen wild um unser Haus,
die Vögel zogen in uns ein und aus,
der blonde Weizen rieselte wie Wein
in unsern tiefen Kelch der Lust hinein.
So war mein Leben auf ein Tun gestellt:
Dein Herz umspannte meine ganze Welt,
und alle Fluren tanzten um mein Glück.
Da kamen Winde und verwirrten dich,
da kamen Falter und entführten dich,
und ließen mich im Stoppelfeld zurück.
Rose Ausländer
aus: „Der Regenbogen“ (Sonette), IX
••• Ich wollte wirklich kürzer treten mit den Sonetten. Aber man begegnet ihnen auf Schritt und Tritt. „Der Regenbogen“ ist ein Sonettenzyklus von Rose Ausländer, Gedichte an einen Geliebten. Sie haben mich gleich sehr berührt. Die direkte Ansprache ist mir sehr vertraut. Und es gelingen ihr immer wieder sehr starke Bilder, die sie konsequent ausgestaltet wie etwa hier die Feld-Metapher.
Drei der Sonette möchte ich in den nächsten Tagen vorstellen, jedes ein Meisterwerk und jedes mit dem gewissen Czernowitzer Klang, der mich auch bei Celan so gefangen nimmt.
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31. August 2007
••• Zum Abschluss dieses Abstechers in die Welt des „Unaufhörlichen“ heute der Schluss-Chor.
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Tags: Gottfried Benn • Paul Hindemith • Lyrik
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