Fallen im Kopf

23. November 2007

••• Als ich A. N. Herbsts 1. Heidelberger Vorlesung „Arbeit in der sterbenden Schriftkultur ist Arbeit am Sterben der Schriftkultur“ las, stand ich noch stark unter dem Eindruck seines ungemein gelungenen Vortrags „Das Weblog als Dichtung“. Letzteren hielt er 2005 im Rahmen des Symposions „Literatur und Strom“ im Literaturhaus Stuttgart, und ich hatte ihn unmittelbar vor der Heidelberger Lektüre mehrfach redaktionell durchzugehen, da er in der gerade in Vorbereitung befindlichen „spatien“-Buchsonderausgabe „Literarische Weblogs“ erscheinen soll.

In seinem Stuttgarter Vortrag entwickelt Herbst mit Verve und phantastischem Beispiel eine Ästhetik des literarischen Webloggens, die nicht nur den resultierenden Text sondern auch die Prozesse seines Entstehens als Kunstwerk postuliert. Die Abgrenzung zu anderen Regionen der vielfältigen Blogosphäre wird gesehen in der Reflektiertheit des öffentlichen Geschehens im Blog, aus der sich nicht nur bestimmte spezifische Formen ergeben, sondern aus der eine eigenständige Poetik in Gestalt einer Theorie des literarischen Bloggens entsteht.

Mit dem Versuch einer Abgrenzung beginnt Herbst auch seine Heidelberger Poetik-Vorlesungen, indem er die eigentlich schon ad acta gelegte Begrifflichkeit von U (Unterhaltung) und E (Ernsthaftigkeit) reanimiert und versucht, die Grenze zwischen beidem im Formellen auszumachen. Obendrein reklamiert er für die (nicht nur literarische) Kunst entschieden einen Platz in der exklusiven, dem Massenmarkt abgewandten, Nische. An seinen Ausführungen reizt mich einiges zum Ein- und Widerspruch.


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letzter abschied

20. November 2007

Wave - © 2006-2007 by abrokenpuppet@deviantart.com
Wave – © 2006-2007 by abrokenpuppet@deviantart.com

beim sinken der hand
was uns künftig verbindet
erwacht die trauer

© Benjamin Stein (2007)

••• Vermessen, nach einem so wunderbaren Haiku wie dem von Masaoka Shiki mit einem eigenen Haiku zu kommen. Abschiede – dieses Thema hat mich schon immer sehr beschäftigt. Allzu oft markieren sie die scharfen Bruchkanten in einer Biographie. Und oft geht es nicht ohne Trauer ab. Auch bleibt von dem, der geht, immer etwas zurück – wie auch bei dem, der geht, etwas bleibt von dem, der zurückblieb.

weeping willow

20. November 2007

Masaoka Shiki
Masaoka Shiki

At our last parting
bending between
boat and shore . . .
That weeping willow

Masaoka Shiki (1866-1902)

Beim letzten Abschied
beugt sich über
Boot und Steg . . .
die Trauerweide

••• Aus dem Moleskine der Herzdame wächst heute eine Trauerweide. Und dazu bringt sie einen Haiku von Masaoka Shiki, dem Erneuerer der japanischen Dichtkunst. Je länger man diese wenigen Worte auf der Zunge schmeckt, desto mehr Facetten der Bedeutung treten hervor. Und besser als an diesem Gedicht kann man kaum zeigen, was Masaokas Kritik an der klassischen japanischen Dichtung ausmacht.


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S != 68 (imaginiert)

20. November 2007

Und ich sitze da und denke mir, dass ich an der nächsten Haltestelle um einen längeren Aufenthalt bitten werde, ich brauche unbedingt einen Pinsel und schwarze Farbe: „la plus grande réserve d’imagination…“ dank Paul Reichenbach muss das unbedingt auf den Bus.

••• Es war vermutlich, ja sicher, nicht so gedacht. Doch was cellini heute in den »Die Dschungel. Anderswelt« schreibt, klang mir spontan wie einer weitere Stilübung auf Queneaus mittägliches Ereignis im Bus S. Wäre es nicht die Linie 68 und würden nicht Kordel und Knopf gänzlich fehlen.

Im übrigen haben auch p.- (Linda, Linda), sturznest und mehrschichtig Variationen über Queneau geschrieben. Leider funktionierte bei allen die Trackback-Benachrichtigung nicht. So liefere ich die Links hier händisch nach.

Herbst in Heidelberg

18. November 2007

Liebe ist nicht lernbar, und übertragbar nur dann, wenn etwas da ist, auf das eine Über­tragung wirken kann.

Alban Nikolai Herbst, in: »Heidelberger Vorlesungen« (I)

••• Der Herbst in Heidelberg ist schön. Ich weiss das aus erster Hand. Diesen Herbst fördert der Herbst in Heidelberg aber auch das Nachdenken über Dichtung. „Arbeit in der sterbenden Schriftkultur ist Arbeit am Sterben der Schriftkultur“ titelt A. N. Herbst über seiner ersten Heidelberger Poetik-Vorlesung. Und es ist abzusehen, dass darüber viel und kontrovers diskutiert werden wird.

Ich entdecke mich dabei, dass ich aller zwei Sätze stecken bleibe und mich festhake an einer Sentenz wie der oben zitierten. Ja, hat er denn recht? (Als wenn es darauf ankäme!)

Wer immer heute hier vorbeikommt, um nach Dichtung zu schauen, möge doch bitte dieses Mal gleich wieder gehen und sich in ANHs virtuellen Hörsaal setzen, um sich selbst ein Bild zu machen. Ich selbst werde sicher demnächst noch darauf zurückkommen, wenn ich meine assoziativen Umwege zu Ende gegangen bin und – beispielsweise – klarer sehe in der Frage, ob Liebe lernbar sei oder nicht.

Und damit ich nicht vergesse, wo man sich bereits eifrig auslässt über Herbsts ersten Heidelberger Auftritt, notiere ich es mir hier:

Lockbuch
hor.de
p.-s Veranda

Bemitleid dieses untier, unmenschheit

15. November 2007

pity this busy monster, manunkind,

not. Progress is a comfortable disease:
your victim (death and life safely beyond)

plays with the bigness of his littleness
– electrons deify one razorblade
into a moutainrange; lenses extend

unwish through curving wherewhen till unwish
returns on its unself.
A world of made
is not a world of born – pity poor flesh

and trees, poor stars and stones, but never this
fine specimen of hypermagical

ultraomnipotence. We doctors know

a hopeless case if – listen: there’s a hell
of a good universe next door; let’s go

e. e. cummings (1943)

bemitleid dieses untier, unmenschheit,

nicht! Fortschritt ist ’ne seuche, die bequem:
dein opfer (tod und leben fest entfernt)

spielt mit der größe seiner winzigkeit
– vergöttern elektronen eine klinge
zur bergkette; und linsen dehnen aus

unwunsch durch krümmen von wo-wann, bis unwunsch
sein unselbst wiederhat.
Die welt der mache
ist nicht die welt des zeugens – armes fleisch

und stern, baum, stein bemitleid, aber nie
dies feine beispiel hypermagischer

ultraomnipotenz. Als ärzte sehn wir:

ein hoffnungsloser fall … hör: nebenan
ist eine höllisch gute welt. Los, gehn wir

e. e. cummings (1943)
Deutsch von: Gisbert Kranz
aus: „Englische Sonette“
© Philipp Reclam jun. Stuttgart 1981

••• Vor einigen Tagen stand wieder eine Bücherkiste vor der Tür des Antiquitätengeschäfts unten im Haus. Ich habe zwei dieser kleinen orangefarbenen Reclam-Bändchen vorm Tod durch den Regen bewahren können. Über beide Funde habe ich mich sehr gefreut. Denn das eine Büchlein ist eine zweisprachige Ausgabe von Christopher Marlowes „Edward II“ (von Marlowe, Shakespeares Zeitgenossen, habe ich noch nichts gelesen und brenne darauf, das nun nachzuholen); das zweite trägt den Titel „Englische Sonette“ und enthält ganze 92 davon, im Original und sehr gelungenen deutschen Nachdichtungen von Gisbert Kranz präsentiert.


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Termin am Mittag

14. November 2007

Raymond Queneau
Raymond Queneau

••• Dass ich Raymond Queneaus „Stilübungen“ wiedergefunden habe, freut mich so ungemein, dass ich nicht wiederstehen konnte, auch eine Variation auf das Thema zu schreiben.

Und wenn wir schon dabei sind, denke ich mir, dann sollte ich die hier mitlesenden Autoren einladen, in ihren jeweils eigenen Stilen und Sichten das gleiche zu tun. Über zehn zeilen von Sudabeh würde ich mich ebenso freuen wie über eine Mandrake-Variante von Markus (quasi schon im Flieger nach Brasilien), eine surreale Sequenz von p.-s Veranda, ein satirisches Prosagedicht vom Herrn H, etwas in strengstem Versmasse vom ANH – oder oder oder…

Wer auch immer Lust hat, sich an dem Spass zu beteiligen, ist herzlich eingeladen, eine entsprechende Version bei sich im Weblog zu bringen und es die Turmsegler wissen zu lassen.

Und hier ist sie – meine Variante der Begebenheit im Bus S…


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