31. Dezember 2007
Ich glaubte lange Zeit, ich hätte so etwas wie einen sechsten Sinn. Nicht, dass ich tote Menschen sah oder etwas Vergleichbares, das man für übernatürlich hätte halten können. Es war eher das Gegenteil der Fall. Ich glaubte, ein Gespür zu haben für das wirklich Vitale in Menschen, die ich traf und die oft meine Hilfe suchten. Ein Gespür dafür, was sie antrieb oder hinderte, etwas zu tun, dafür, wovon sie zehrten, für jenen Kern in ihnen, den sie selbst in einem offenen Moment vielleicht als ihr Ich bezeichnet hätten.
Was einen Menschen ausmacht, das steht ihm nicht ins Gesicht geschrieben. Es lässt sich nicht dem Klang seiner Stimme ablauschen. Man kann es nicht riechen und schmeckt es nicht einmal aus dem Tropfen Schweiss auf der Schläfe im Augenblick der Angst. Wollte man sich auf Berührungen verlassen, wäre man ganz verloren, denn Tastender und Berührter vermischen sich in der Berührung, und man kann nie sagen, ob man nicht mehr von sich selbst wahrnimmt in einem solchen Moment als von dem Menschen, den man zu erkennen hofft. Auch eine Mischung aus all dem ist es nicht. Nein, das, wovon ich hier spreche, ist mit den uns für gewöhnlich verfügbaren Sinnen nicht zu fassen.
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30. Dezember 2007
Rav Aharon Shear-Yashuv auf dem Dach eines Hauses in der Plugat Ha-Kotel
••• Und wieder habe ich einen Bus verpasst. Ich war früh auf, doch nicht früh genug. Am zentralen Busbahnhof sah ich gerade noch die Rücklichter des Busses nach Massadah. Also bin ich zum Informationsschalter, um mich zu erkundigen, wann der nächste Bus fährt. Die Dame am Schalter meinte sehr freundlich, aber bestimmt, dass ich, statt den nächsten Bus zu nehmen, auf einen Anruf warten sollte. Jemand hätte andere Pläne mit mir und würde sich mit mir in Verbindung setzen.
Das gefällt mir, denn ich bin ja hierher gekommen, um mich von Entdeckung zu Entdeckung, von Überraschung zu Überraschung treiben zu lassen. Ich muss nicht lange auf den Anruf warten. Das Telefon klingelt bereits, während ich noch nach einem gemütlichen Platz in einem der Cafés Ausschau halte. Es meldet sich Rav Aharon Shear-Yashuv. Er stammt ursprünglich aus Bochum, ist 1970 via USA nach Israel eingewandert, lehrt heute als Professor für jüdische Philosophie an der Bar-Ilan-Universiät und wohnt seit 1979 im jüdischen Viertel der Jerusalemer Altstadt. Die Stadtmauer aus der Zeit des zweiten Tempels verläuft direkt unter seinem Haus.
Er lädt mich ein, ihn zu besuchen. Er hätte gehört, ich würde mich für historische Mikvaot interessieren, und er könne mir einige zeigen. Meine Pläne für den Tag sind flugs verworfen. Ich sage zu, nehme ein Taxi zum Yaffa-Tor und setze zum ersten Mal einen Fuss in die Altstadt von Jerusalem.
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29. Dezember 2007
••• Ich hatte gehofft, im „Little House in Bakah“ eine Nachricht von Zichroni vorzufinden. Aber nichts. Ich werde erst einmal die Herzdame anrufen und essen gehen. Morgen sehen wir weiter.
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29. Dezember 2007
Familie Schatz (teilweise): Lisa, Yecheskel, David und Malachi. Die drei Mädchen waren fotoscheu…
••• Der Schabbes in Ofra ist wie im Flug vergangen. Familie Schatz, bei denen ich zu Besuch war und die über drei Ecken verwandt ist mit der Frau eines Freundes von mir, hat mich aufgenommen wie ein Familienmitglied. Yecheskel kam mit dem Auto, um mich vom Tor der Siedlung abzuholen. Er hatte zuvor die älteste Tochter zu einer Freundin in einen anderen Jeschuv gebracht, dafür zwei Freundinnen der mittleren Tochter mitgebracht: kids exchange über Schabbes. Etwa eine Stunde vor Schabbes kamen wir am Haus an. Ich habe nur noch schnell meine Ankunft verkündet, und dann mussten wir uns schon umziehen für Schabbes.
Ich bin auffällig hier. Der Unterschied zur wochediken Kleidung besteht lediglich darin, dass man ein weisses Hemd anzieht. Mit Schabbes-Anzug, Krawatte und Hut bin ich deutlich overdressed, ein Jecke eben.
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28. Dezember 2007
••• Schabbat Schalom aus Ofra. Das war jetzt knapp. Aber ich habe es geschafft. Keine Nachricht von Zichroni, aber Verabredungen für die kommende Woche. Ich melde mich wieder morgen Nacht.
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27. Dezember 2007
••• Ich bin wohlbehalten angekommen. Allerdings mit gehöriger Verspätung. Ganze achtzehn Jahre bin ich zu spät, um genau zu sein. Denn so lange ist es her, dass ich mein erstes Flugticket nach Israel in Händen hielt. Ich hatte damals vor, einige Monate hier in einem Kibbuz zu verbringen und Hebräisch zu lernen. Das Ticket ist verfallen. Ich bin nicht geflogen. Auch ein Jahr später nicht. Auch fünf Jahre später nicht. Erst jetzt, achtzehn Jahre später, bin ich endlich zum ersten Mal hier.
Amnon Zichroni habe ich also nicht wie geplant am Flughafen in Tel Aviv getroffen. Er muss irgendwann in den letzten achtzehn Jahren hier angekommen sein. Ich habe ihn verpasst. Der Taxifahrer allerdings – nein, es gibt keine Zufälle – kannte ihn. Es kam mir sogar so vor, als wäre er von Amnon geschickt, um mich am Flughafen aufzulesen. Und tatsächlich: als wir in Herzliya in der Rechov Ha’Ilanot 35 ankamen und ich bezahlt und mir ganz nebenbei sein gesamtes Euro-Wechselgeld in Münzen hatte andrehen lassen, da meinte er zu mir, dass er eine Nachricht für mich hätte. Er wühlte im Handschuhfach und fand schliesslich einen vergilbten Zettel, den er mir feierlich überreichte:
Willkommen in Israel, lieber Benjamin,
Du weisst, Du bist spät dran. Aber zu spät ist es noch nicht. Wir werden uns sicher treffen in den nächsten Tagen. Ich setze mich mit Dir in Verbindung.
Baruch ha-Ba
Dein Amnon
Nun, das geht gut los. Nathan ist auch schon da. Wir gehen jetzt erst einmal aus. Wunderbar, zwischen zehn koscheren Restaurants direkt am Meer wählen zu müssen! I love it!
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