Stufen

14. August 2009


Stairs – © jotamyg@deviantart.com (2009)

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse (1877-1962)

••• Mein Schwager hat heute geheiratet. Wir waren bei der standesamtlichen Trauung dabei. Und wen zitiert die Standesbeamtin? Hesse.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Das passt gut bei einer Trauung, wenn einem nicht – wie mir – gerade die Strophe davor im Ohr klingt:

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.


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Die verbrannte Hand

14. August 2009

»Krötenwanderung« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

Clarice Lispector
Clarice Lispector (1920-1977)

Clarice Lispector, grande dame der brasilianischen Literatur des 20. Jahrhunderts, muss ein schwieriger Charakter gewesen sein. Keine ihrer Freundschaften hielt lange, niemand hielt es auf Dauer in ihrer Nähe aus. Sie galt als unberechenbar, und mit der Wahrheit nahm sie es nicht sehr genau. Mal erzählte sie eine Geschichte so, dann wieder anders. Und wenn man glaubte, den Schleier endlich gelüftet und eine ihrer Unwahrheiten zweifelsfrei entlarvt zu haben, sah man sich nur von einer weiteren Finte hinters Licht geführt. Zudem interessierte sie sich sehr fürs Okkulte und umgab sich Zeit ihres Lebens mit Kartenlegern und Wahrsagern, weshalb sie auch gelegentlich »die Große Hexe der brasilianischen Literatur« genannt wurde. Eines Nachts hatte sie sich mit einer brennenden Zigarette ins Bett gelegt und war kurz darauf in einer Feuerhölle erwacht. Sie konnte sich retten, zog sich aber schwere Verbrennungen an ihrer Hand zu, die sie fortan wie eine schwarze Klaue vor sich hertrug.


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Personal Urns

13. August 2009

Personal Urns
via: cremationsolutions.com

••• OMG! Definitely not a Jewish custom.

Der Stachel der Romantik

13. August 2009

Franz Fühmann
Franz Fühmann (1922-1984)

••• Beim Umräumen der Unordnung in meinem Arbeitszimmer fiel mir vor ein paar Tagen eine noch ungelesene »Sinn und Form« in die Hand, die erste Ausgabe dieses Jahres vom Januar/Februar. Ein Glücksfund. Das Jahr begann nämlich – von mir unbemerkt – mit einem Essay von Gunnar Decker über die kurze, aber Aufsehen erregende Rückbesinnung einiger DDR-Autoren Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre auf – die Romantik. Ich erinnerte mich spontan an Hermlins »Abendlicht« und Christa Wolfs »Kein Ort. Nirgends«. Und tatsächlich, bestätigt mir Decker, gehörten jene zu den konterrevolutionären, romantischen Verschwörern.

Einer unwürdigen Beschäftigung gingen diese Autoren nach, denn »Die Kunstrichtung der Romantik bestand aus zehntausend Autoren, deren Namen wir alle vergessen haben. Keiner von ihnen vermochte zu schreiben.« So Peter Hacks.

Überhaupt, so Hacks, seien aIle Romantiker Verschwörer […] : »Das erste Auftauchen der Romantik in einem Land ist wie Salpeter in einem Haus, Läuse auf einem Kind oder der Mantel von Heiner Müller am Garderobenhaken eines Vorzimmers. Ein von der Romantik befallenes Land sollte die Möglichkeit seines Untergangs in Betracht ziehen.«

Wie weitsichtig Hacks da in seiner ungestümen Parteilichkeit war!


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Crônica

13. August 2009

»Krötenwanderung« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

Die »crônica« ist eine literarische Gattung, die sich in Brasilien seit über 150 Jahren großer Beliebtheit erfreut. Im Laufe dieser Zeit hat sie eine Formenvielfalt angenommen, die es Literaturwissenschaftlern schwer macht, sie noch klar zu definieren oder auch nur einzugrenzen. Man ist sich zwar weitgehend darüber einig, dass – wie so vieles andere auch – die »crônica« ihren Ursprung nicht in Brasilien hat, aber nirgendwo sonst findet sie derart breite Akzeptanz.

Über die »crônicas« von Vinícius de Moraes fand ich im Alter von siebzehn Jahren überhaupt erst den Zugang zur Literatur. Ich verliebte mich in diese kurzen Texte, in denen der Autor alles in seinem Alltag zum Anlass nahm, um über Musik, Poesie und die Liebe zu schreiben, und dies in einer Sprache, die mich damals vollkommen verzauberte: Para viver um grande amor…


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