6. Oktober 2008
Szenenfoto aus dem Film »Das Verhör« (nicht der hier erwähnte)
••• Ich habe es mir bei der »Leinwand« an vielen Stellen nicht leicht gemacht. Auch das Wechsler-Kapitel 10 wird eine Herausforderung. Das Wechsler-Finale wird mit diesem Kapitel eingeleitet, und es besteht ausschließlich aus einem Verhör.
Wechsler hat sich einerseits seit Jahren in Lügen verstrickt. Anderseits ist er sich mittlerweile seiner eigenen Identität völlig unsicher geworden. An entscheidende Details seiner letzten Israel-Reise erinnert er sich gleich gar nicht. Wenn er nun von einem israelischen Beamten am Flughafen abgepasst wird, um ein paar Fragen zu beantworten, hat er schlechte Karten…
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6. Oktober 2008
Synagoge am Fraenkelufer in Berlin-Kreuzberg
Die Erfahrung der wenigen Stunden Exil, die ich am Spreeufer in Kreuzberg gemacht hatte, war noch frisch. Vielleicht glaubte ich, dass ich, da ich diese Stunden überstanden hatte, auch bewusst Abschied vom Kleinen Land nehmen könnte. Alles würde sich ändern. Das war damals jedem klar. In einigen Stadtbezirken wurde die Mauer bereits abgerissen. Helmut Kohl tourte durchs Land und badete sich in den Sprechchören: »Wir sind ein Volk!« Mir kam das vor wie eine offene Drohung.
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5. Oktober 2008
Clouds In Sky – © Juliet Lofaro
Ich stand noch eine Weile im Hof und beobachtete die Taube bei ihren verzweifelten Ausbruchversuchen. Dann ging ich nach oben. Als ich meinen Mantel aufhängte, entdeckte ich sie auf dem Fensterbrett.
Was soll ich tun?, hörte ich mich fragen. Ich beugte mich hinunter und sah tief in ein starres, gelb geschecktes Auge, das mich zu mustern schien. Die Taube gurrte, schlug mit den Flügeln und flog davon. Da ist mir etwas aufgegangen.
Will man etwas wiederfinden, muss man dorthin zurückkehren, wo man es verloren hat. Das Wort »Berndeutsch« hatte genügt, mir in Erinnerung zu rufen, wo meine Mutter lebt. Vielleicht, dachte ich, würde auch der Rest meiner verlorenen Erinnerungen wieder auftauchen, wenn ich nach Israel zurückkehrte. Was immer meine Erinnerungen fortgespült hat, die ich loswerden wollte – es muss in Israel geschehen sein, wohin ich Ende letzten Jahres zum ersten Mal gereist bin.
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3. Oktober 2008
Zwei Milliarden Spatzen wurden 1957 in China so lange gehetzt, bis sie tot vom Himmel fielen
Die Seelen der Gerechten, erklärte mir Ariel, verlassen die Welt nicht, solange sie gebraucht werden. Stirbt ein Zaddik, schlüpft seine Seele in den Körper einer jungen Taube. Dort wartet sie, bis ein Mensch geboren wird, dessen Körper als Gefäß für die wartende Seele taugt. So kehren die Gerechten in die Welt zurück und setzten ihre Werke fort.
Ariel berief sich bei dieser Theorie auf ein Konzept der Seelenwanderung, das in den geheimen Büchern erwähnt wird. Gilgul ha-Neshamot ist ein Begriff, den man nicht laut aussprechen sollte. Zu nah verwandt scheinen die Ideen, wenn man sie flüchtig betrachtet, mit denen anderer Völker und Religionen. Spekuliert man über sie, gerät man leicht in Gefahr, in Irrtümer abzugleiten. Vielleicht stehen die Mystiker aller Religionen schon allein aus diesem Grund immer mit einem Fuß im Feuer.
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2. Oktober 2008
Der Schochet schärft das Messer, nicht mit Wasser, sondern mit Tränen
© Nemo @ My Ramblings
Der Beruf des Maschgiach ist wenig aufregend, gelegentlich allerdings blutig. Ein Maschgiach ist ein Hüter der Seelen. Er wacht über die Kaschrut in den Gemeindeeinrichtungen. Meist pendelt er zwischen Altenheim, Restaurant und Metzgerei, ist einen Tag hier, einen Tag dort. Er inspiziert die gelieferten Zutaten, wäscht und untersucht den Salat auf Ungeziefer, schlägt die Eier einzeln auf, um sie auf Blutstropfen zu untersuchen, und er schaut den Köchen über die Schulter. In der Metzgerei verwahrt er den Schlüssel zum Kühlraum und versiegelt mit dem Aufkleber des Rabbinats die eingeschweißten Fleisch- und Wurstpakete, bevor sie ausgeliefert werden.
Ab und an, wenn geschächtet wird, fällt ihm die Aufgabe zu, das Ausbluten der Hühner zu beaufsichtigen. Die Seele der Vögel verlässt mit dem Blut ihre Körper und schwebt, solange das Blut noch fließt, im Raum. Erst wenn das Tier sich nicht mehr rührt und das Blut mit Sand bedeckt wird, nimmt die Seele Abschied, und man darf das Huhn rupfen. Beine und Flügel müssen auf Brüche und die winzigen Lungen auf Verletzungen untersucht werden, die auf frühere Krankheiten deuten könnten. An solchen Tagen arbeitet neben dem Schochet, der das Messer führt, auch der Maschgiach im Akkord.
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2. Oktober 2008
••• Auf den letzten Metern (die drei letzten Kapitel der „Leinwand“) wird es noch einmal richtig schwierig. Wie schon im Zichroni-Strang müssen es drei Kapitel werden, die wie Erzählungen in sich geschlossen sind. Das Thema des aktuellen Kapitels hat es in sich: Gilgul (Seelenwanderung). Das Grundmotiv sind Übergänge.
Die äußere Klammer ist ein geographischer Übergang, ein Flug von München nach Tel Aviv. An unterwegs auftauchenden Motiven wird das Thema des Übergangs variiert. So wird das Thema der Mikwe wieder aufgenommen, deren reinigendes Wasser Übergänge zwischen verschiedenen ideellen Zuständen bewirkt. Auch Vögel spielen eine Rolle, die einer im Sohar geäußerten Ansicht zufolge die Seelen von Menschen aufnehmen können, die in den Körpern der Vögel auf eine Wiedergeburt in einem anderen Menschen warten…
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29. September 2008
In den mittleren Klassen begannen unsere Schultage mit einem Lied. Wir standen an unseren Plätzen, wenn die Lehrerin ins Klassenzimmer kam. Was gesungen wurde, machten die Mädchen vor dem Unterricht auf dem Schulhof aus. Die Klassensprecherin – es war immer ein Mädchen – teilte der Lehrerin mit, auf welches Lied die Wahl des Tages gefallen war. Dann stimmte die Lehrerin an.
Eines dieser Lieder liebte ich und hasste es gleichzeitig. Es war nicht wie die meisten Lieder, die wir im Musikunterricht lernten, ein Marsch, nicht einmal ein Strophenlied, sondern eine fließende Weise zum poetischen Text eines jungen Dichters.
»Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer. Unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald. Unsre Heimat ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld und die Vögel in der Luft und die Tiere der Erde und die Fische im Fluss sind die Heimat…«
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