Die Fähigkeit zu sein

12. Januar 2009

Für Arye Sachs

Die Fähigkeit, ein Vogel zu sein,
ist, unter anderem, die Fähigkeit
stets ein passendes Klima zu wählen,
daher die Gabe, hoch aufzusteigen —
zu den Landschaften der Sonne.

Nicht so wie die Poeten, die all ihre Tage den Schatten
von Vögeln mit hellen Pupillen verfolgen
und die Worte wie Flugkörner hochhalten —
nur manchmal springen sie von Brücken und zerschmettern
in ihre stürmischen Gedichte hinein. Während die Vögel
gemächlich über die Brücken ziehen, über das Leben hin.

Asher Reich, aus: »akzente« 6/2008
Übersetzt von Lydia und Paulus Böhmer

••• Wie schon berichtet, bescherte mir die Lektüre von »akzente« 6/2008 eine Neuentdeckung: Asher Reich. Der israelische Lyriker wuchs genau in jenem Milieu auf, das ich in der »Leinwand« als die Kindheitsumgebung von Amnon Zichroni beschreibe. Bis zu seinem 18. Lebensjahr lebte Reich im haredischen Meah Shearim – abgeschottet von der modernen Welt.

Während jedoch Zichroni, was die Dichtung angeht, nie etwas anderes als »Leser« sein wollte, drängte es Reich zum Schreiben.

Der Schriftkundige hatte die Sprachen der Welt zu lernen, Jargon und Tonarten der profanen Zeit, politisches und technisches Vokabular des modernen Staates und seiner Propaganda, die Geheimsprachen der Liebe, des Körpers, der Seele, Dialekte des täglichen Lebens und der Straße, akademische, literarische Hypertrophien.

Christoph Meckel


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Lesen! – Nr. 40

11. Januar 2009

Lesen! – bei litcolony.de

••• Frau Heidenreich zum 40. Mal. Dieses Mal – wie versprochen – umgehend gemeldet. Viel Vergnügen.

Freie Hörbücher

11. Januar 2009

••• Nachdem Journalist, Hörfunk- und Fernsehsprecher Johannes M. Ackner für die Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig diverse Hörbücher eingelesen hatte, initiierte er eine Website für freie Hörbücher. Auf vorleser.net werden unterdessen an die 500 MP3-Hörbücher zum freien Download angeboten, allesamt eingelesen von professionellen Sprechern und Sprecherinnen.

Möglich ist das kostenfreie Angebot, weil es sich bei den eingelesenen Texten vor allem um solche mit ausgelaufenem Copyright handelt, wie sie in Textform u. a. auf den Seiten des »Projekt Gutenberg« präsentiert werden.

Da die Sprecher kaum pro bono arbeiten dürften, ist die Seite mit Google-Ads geradezu überladen. Eine weitere Einnahmequelle sind jedoch auch kommerzielle Hörbücher, aus denen gratis nur Teile angeboten werden – so etwa die Hörbuchausgaben der Lutherbibel und des Korans. Nicht zuletzt verkauft vorleser.net im angegliederten Shop auch Hörbücher anderer Audio-Verlage als Download.

Das Angebot von Vorleser.net wird laufend erweitert, ein Ende des Wachstums ist noch nicht abzusehen. Inzwischen nehmen mehr als 30 professionelle Sprecherinnen und Sprecher regelmäßig neue Hörbücher für das Portal auf. So wird in absehbarer Zeit ein Kanon der klassischen Literatur als kostenloses Hörbuch zur Verfügung stehen. Aber auch zeitgenössische Schriftstellerinnen und Schriftsteller nehmen einen immer größeren Raum auf Vorleser.net ein.

Vergleichbare Online-Angebote gibt es übrigens auch für französische, holländische und englische Gratis-Hörbücher.

Schirei ha-Wakaschot

8. Januar 2009

Es ist Schabbes, tief in der Nacht. Ich sitze in einer sfardischen Schul und lausche dem Wechselgesang dreier Peytanim, zwei Baritone und ein Tenor. Der älteste ist etwa sechzig, ein Chassid, was mich irritiert, denn die »Schirei ha-Wakaschot«, die sie singen, sind marokkanische Weisen. Die beiden anderen, der zweite Bariton um die vierzig, der Tenor höchstens Mitte zwanzig, sehen schon eher wie Sfardim aus Nordafrika aus. Der Chassid klingt weise und liebevoll. Der junge Sänger gießt leidenschaftlich Poesie aus. Der Dritte scheint zwischen beiden zu vermitteln, als würde er ihre Lieder miteinander verknüpfen wollen.

Gesprochenes Hebräisch klingt für mich immer hölzern und kalt. Im Gesang der Peytanim aber schwingen die gutturalen Klänge und schweben, zu poetischen Figuren verwoben, im Raum.

Das sind Meister, flüstert mein Begleiter mir zur: Sie beginnen mit einem Psalm und improvisieren dann. Sie lassen sich leiten von der Stimmung der Nacht und des Ortes. Die Lieder, die wir hören, die Texte wie auch die Musik, erklingen nur heute und hier. Woanders und in einer anderen Nacht werden sie sich verwandeln.

Der Gedanke gefällt mir. Es ist das erste Mal, dass ich so etwas höre. Die schönste Schöpfung bereitwillig zu opfern, indem man akzeptiert, dass sie unwiederbringlich verklingt, ist wahre Hingabe.

aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)

Schirat ha-Wakshot (Haboucha/Nahari/Riahi)
Live-Mitschnitt 14:26
© Gal Star, Israel

dann wieder muss ich mich gedulden

7. Januar 2009

mein beruf ist anstrengend
ich muss die anima der dinge suchen
ich habe die pflicht sie zu betrachten
und ihr verhältnis zueinander neu zu ordnen
jene kleine anhäufung der leeren dosen dort
sie hat doch eine botschaft
dann wieder muss ich mich gedulden
bis die dinge ihre schönheit der zerrüttung preisgeben
ich muss die vögel beruhigen
die nachts um meinen schlaf schwirren
und muss sie schützen vor dem willkürlichen licht

© SAID (2008), aus: »akzente« 6/2008

••• Ich lese sehr langsam derzeit und vor allem wissenschaftliche Bücher, die sich mit Aspekten des Themas beschäftigen, das möglicherweise zum Thema eines neuen Romans werden wird. So sind auch einige Literaturzeitschriften ungelesen liegengeblieben. Gestern habe ich immerhin Heft 6/2008 der »akzente« aus dem Stapel gefischt und durfte mich über eine Wiederbegegnung mit SAID freuen. »akzente« bringt einen Zyklus von SAID und Asher Reich, ein poetisches Zwiegespräch.

SAID erreicht mich durchaus nicht immer, aber mit einigen Gedichten aus diesem Zyklus hat er mir Freude gemacht.

Von Asher Reich ein andermal mehr.

Once Upon a Midnight Dreary

6. Januar 2009

••• Anlässlich des 200. Geburtstages von Edgar Allen Poe veranstaltet das Amerikahaus München einen Abend für – wie es in der Ankündigung heißt – »America’s father of the gothic« (sic!). Der Schauspieler Richard Clodfelter, Pianist Paul Flush und John Kenny an der Posaune bestreiten das englischsprachige Programm: »both haunting and brooding that will keep you on the edge of your seat.«

Die Show startet am 15. Januar 2009 (Donnerstag) um 19:30 Uhr im Amerikahaus. Die Karten kosten 8,- € (erm. 5,- €) und können telefonisch vorbestellt werden (+49-89-5525370).

Hoffentlich hat der Babysitter Zeit…

Lesen! – Nr. 39

5. Januar 2009

Lesen! – bei litcolony.de

••• Immer häufiger verstehe ich die Attitüde der Literaturcafé-Schreiber nicht. Heute rechnet man dort die Reichweite von Heidenreichs neuer Web-Version der Lesen!-Sendung nach, und aus jedem zweiten Satz purzelt Häme. Ist denn – mit Verlaub – das Literaturcafé so »meinungsbildend«, dass es sich diesen Spott erlauben kann? Oder was sonst steckt dahinter?

Richtig ist, dass der Heidenreich-Sendung eine Abo-Möglichkeit fehlt. Und richtig ist auch, dass die zweite Sendung weniger häufig verlinkt worden ist als die erste. Auch ich habe es nicht getan, obwohl ich (die Literaturcafé-Statistiker können das in ihre Berechnung einfließen lassen) die zweite wie auch die erste Sendung bis zum Ende angesehen habe. Den Hinweis auf die zweite Online-Folge hole ich hiermit nach und hoffe, auf die folgenden Sendungen zeitnah hinweisen zu können – bis es besagte Abo-Möglichkeit gibt.

PS: Wer über eine dicke DSL-Leitung verfügt, kann übrigens auch die hochauflösende Version bei vimeo.com anschauen. Dank ans Literaturcafé für diesen tatsächlich nützlichen Hinweis.