Archiv der Kategorie 'Replay'

Hängepartie

Donnerstag, den 3. Februar 2011

Als vor einigen Jahren die ersten 3D-Filme in den Kinos gezeigt wurden, war ich nie versucht, mir einen anzuschauen, weil ich davon ausging, ich würde nichts davon haben. Inzwischen gibt es manche Filme nur noch in 3D. Also habe ich es versucht. Als ich die 3D-Brille, die ich am Eingang bekommen hatte, aufsetzte, war ich noch skeptisch. Als dann aber der Vorhang aufging und der Film begann, überwältigten mich die Bilder wie nichts anderes je zuvor. Ich hatte keine Ahnung, wie es funktionierte, aber das tat es. Starrte der Held in einen Abgrund, fühlte ich tatsächlich die gähnende Tiefe. Alles kippte ins Bodenlose. Ich stürzte in eine völlig unbekannte Welt und wälzte mich genussvoll in den Bilderfluten. Es war wie ein Trip, ein berauschendes Fest, wie ich es noch nie erlebt hatte.

Läufer e2-d3 diktierte ich meinen nächsten Zug, und während Matana schrieb und ich setzte, gab ich zu, dass es schön wäre.

Schön! Matana seufzte. Das ist alles?

Zum ersten Mal zog er die Dame: d8-c8. Er brachte die Artillerie in Stellung.


Den ganzen Beitrag lesen »

Dein Auge, sagte er

Mittwoch, den 2. Februar 2011

Auge • © Thomas Seliger
Auge • © Thomas Seliger

Dein Auge, sagte er.

Das traf mich wie ein gezielter Schlag in den Magen. Wie wenig hatte ich doch erreicht! Mein positives Körpergefühl war von den Füßen aufgestiegen, aber unter der Augenlinie hatte es halt gemacht. Es genügte offenbar noch immer die bloße Erwähnung meines unübersehbaren Defekts, um mich in die Gefühlswelt meiner Kindheit zurück zu katapultieren, in ein Chaos aus Verletzungen, Scham und Wut darüber, nicht ändern zu können, weswegen ich begafft und gehänselt wurde. Es konnte doch wohl nicht möglich sein, dass ausgerechnet Matana, der dieses Gefühl kennen musste, einem ähnlichen Impuls der Neugier nachgegeben hatte.

Natürlich wusste ich, dass er sich für Augen interessierte. Als Biologe hatte er sich über Jahrzehnte mit dem menschlichen Sehvermögen und den Ursachen verschiedenster Sehstörungen beschäftigt. Es war auch kein Zufall, dass das Logo seiner Firma ein Paar weit geöffneter Augen darstellte. Matanas Vision war es, Blinde sehend zu machen, was nach seiner Vorstellung bedeutete, ihnen eine Welt zu Füßen zu legen oder – noch genauer – eine Welt für sie zu erschaffen.


Den ganzen Beitrag lesen »

In Angriffsstellung

Dienstag, den 1. Februar 2011

Matana war nie ein typischer Silicon-Valley-Entrepreneur. Er ist spät nach Kalifornien gekommen. Die meiste Zeit seines Lebens hat er in Chile verbracht. Dort ist er aufgewachsen, dort hat er studiert, promoviert und mehrere Jahrzehnte als Professor gelehrt. Dass er schließlich 1990 in die Staaten kam und seine Forschungen in einem Privatinstitut unter Ausschluss selbst der akademischen Öffentlichkeit fortführte, provozierte allerlei Irritationen – und Neid. Über Matanas Geschicklichkeit bei der Finanzierung seiner Forschungen kursierten schon bald diverse Gerüchte. Das Unternehmen, das er selbst gern als unabhängigen think tank bezeichnet, gehört ihm nicht allein. Die ebenso geduldigen wie finanzstarken Anteilseigner halten sich jedoch so diskret im Hintergrund, dass kaum jemand weiß, woher die Gelder stammen, mit denen Matana sein Institut betreibt.


Den ganzen Beitrag lesen »

Deep Blue

Montag, den 31. Januar 2011

••• Warum ausgerechnet Schach? Weil es ein strategisches Spiel ist. Das korrespondiert mit Strategien, wie sie Matana ganz offensichtlich in seinen Gesprächen verfolgt. Und außerdem wird Schach in einer Notation protokolliert, die einem Uneingeweihten nichts sagt. Mein Großvater, von dem ich Schachspielen lernte, konnte blind spielen. Er nahm Block und Stift und setzte sich mit dem Rücken zum Brett. Ich musste meine Züge ansagen. Er notierte sie und verkündete seine Erwiderung. Er hatte das Schachbrett »vor dem inneren Auge«.

Und damit steigen wir nun ein in die Partie zwischen Rosen und Matana…


Den ganzen Beitrag lesen »

Mittelgambit

Sonntag, den 30. Januar 2011

e2-e4
1. e2-e4 …

Heute, dachte ich, würde ich die Partie verlieren, obgleich Matana, um es mir leichter zu machen, sogar Tage zuvor angekündigt hatte, dass er ein Mittelgambit spielen würde. Ich war schlecht vorbereitet. Matana ist ein Eröffnungsmeister, eine Art wandelnde Eröffnungsdatenbank. Mühelos repetiert er ohne nachzudenken die komplexesten Varianten von Auftaktzügen. Ich hätte mich schlau machen müssen, aber es gab ganze Bücher allein über diese Eröffnung, und über die »Skandinavische Verteidigung mit vertauschten Farben«, bei der Matana nicht einmal einen Bauern würde opfern müssen, um kraftvoll und mit Tempo ins Spiel zu kommen, war ich bei meinen Studien nicht hinausgekommen. Dabei hing bei unseren Partien für mich alles davon ab, mich mit Würde ins Mittelspiel zu retten. In unübersichtlichen Situationen mit vielen strategischen Möglichkeiten konnte ich am ehesten eine Partie für mich entscheiden oder doch wenigstens ins Remis führen. Landeten wir erst einmal in einem figurenarmen Endspiel, war gegen Matana gar nichts mehr auszurichten. Dann führte er mich vor wie einen Anfänger und würzte sich seinen Triumph noch gern mit der Ankündigung: Matt in drei Zügen.

aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)

 

••• Jetzt brauche ich Hilfe von den Schachkundigen unter den Turmseglern. Ich habe einen ambitionierten erzählerischen Plan, dessen Umsetzung sich schwierig gestaltet.


Den ganzen Beitrag lesen »