Archiv der Kategorie 'Prosa'

Von Menschen und Sternen

Sonntag, den 11. März 2007

Darstellung der Gefiederten Schlange am Tempel des Quetzalcoatl in Teotihuacán

„Was beunruhigt dich, Vater Quetzalcóatl? Welcher Stern am Firmament bewegt sich nicht so, wie du es berechnet hast?“

„Es sind nicht die Sterne, die mich gegenwärtig beunruhigen, Tatle; die Menschen sind es. Die strenge Schönheit der Gestirne hatte sie mich vergessen lassen. Sie ziehen eine feste Bahn, deren Gesetz sie befolgen und das wir nur erkennen müssen, um zu wissen, wie sie sich weiterhin bewegen werden; aber die Menschen richten ihr Verhalten nicht nach feststehenden Gesetzen aus. Ich kann mit meinen Schnüren und Zahlen nichts berechnen. Wir leben auf einem Stern, der eine regelmäßige Bahn durchläuft; aber die Menschen, die auf ihm steuern, verfahren ganz nach Lust und Laune. Jetzt wollen sie dies und morgen das. Heute schätzen sie gering, was sie gestern beunruhigte. Die einen lieben, und andere hassen; einige geben, und andere nehmen fort, und morgen ist es genau umgekehrt. Diese Welt schleppt bei all ihrer Regelmäßigkeit eine wirre Sphäre von Willkür mit sich.“

„Du hast recht“, stimmte Tatle zu. „Ich verstehe die Welt der Menschen nicht, obwohl ich selbst einer von ihnen bin. Häufig verstehe ich nicht einmal das, was in mir vorgeht. […]“

José López Portillo y Pacheco, aus: „Quetzalcóatl“
© Insel Verlag, Frankfurt am Main 1978

••• Es hat sich doch gelohnt, das Buch noch einmal zu lesen. Der grosse Zauber will sich nicht mehr einstellen, aber es blitzt doch hier und dort noch eine Ahnung davon auf. Wie kommt es, dass mir die Märchenerzähler der Azteken als die grösseren Dichter erscheinen? Sie berichten von Sternen, Menschen und Dingen. Sie dozieren nicht. Sie erzählen. Sie philosophieren nicht. Der Dichtung tut es nicht gut, wenn wir über die Dinge reden, statt von ihnen zu sprechen oder sie selbst sprechen zu lassen.

Quetzalcóatl

Sonntag, den 4. März 2007

Quetzalcoatl und Tezcatlipoca

Die dunkle Nacht, der Wind und das Meer warfen ihn auf den Strand. Hier lag er fest, an seinen Balken gebunden. Bedeckt von Schaum. An die Erde gepreßt, in ihre sanfte Krümmung geschmiegt wie das Kind an die Mutter.

Nackt und ohne Erinnerung. Nur sein nächtliches Wachen hatte in ihm selbst wie ein Stern zwischen dem Wind und den Finsternissen gestrahlt. Innen. Draußen brüllten der Sturm und der Wirbel.

Die ersten Lichter eines neuen Tages und die Stille fanden ihn hingestreckt am Strand. Er erinnerte sich nur an die Richtung seines Ursprungs, die aufgehende Sonne und das Kreuz der vier Winde, an das er festgebunden war und das ihn auf dem Meere schwimmend unter dem Heulen des Sturmes bis zu diesem vom Wasser getrennten Land, inmitten Wind und Nacht, getragen hatte.

Er war nackt, ohne Erinnerung, nur gewillt, weiterzuleben. Vor Not von Sinnen. Sein Bewußtsein brachte es bloß zu Angst und Einsamkeit.

Bin ich noch jemand, fragte er sich endlich, als der Schmerz ihn gegen den Felsen warf und ihm Kraft und Bewußtsein schwanden; der Funke seines Wachens erlosch, und es blieb nur ein graues Sausen zurück, das dem Tod sehr ähnelte und in seinem geschwollenen Mund nach Blut und nach Salz schmeckte.


Den ganzen Beitrag lesen »

Die Wunde (Schluss)

Sonntag, den 25. Februar 2007

Wolfspur im SchneeUnd dann geschah das Unglück, geschah das Unvermeidliche, das früher oder später hatte kommen müssen, denn in den Wäldern bleibt nichts verborgen, am wenigsten die Schwäche des Herrschers. So kam eines Tages mein Vetter über den Fluss, über die seit Jahren feststehende Grenze zwischen unseren Jagdrevieren, um mit mir zu kämpfen, mir meine Herrschaft streitig zu machen. In ihm trat mir meine frühere Gestalt entgegen, der kräftige, flinke, geschickte Wolf.


Den ganzen Beitrag lesen »

Die Wunde (IV)

Samstag, den 24. Februar 2007

.:.Wolve K.:. - © 2007 by ~Kitty3105@deviantart.com

Dabei hatte ich schon recht bald den Verdacht, dass nicht alle Menschen so sein konnten wie das Kleine Mädchen, so gütig und mit jener Kraft des Verzeihens, denn hätten sie sonst so über mich gesprochen? Hätten sie mich nicht vielmehr wie das Kleine Mädchen als ihresgleichen annehmen müssen, statt mich zu verleugnen und zu beschimpfen? Doch wie durch einen Zauber hatte ich alle Erinnerung an andere Menschen außer dem Kleinen Mädchen verloren, selbst die Erinnerung an den Jäger, den ich so oft gesehen, der mir immerfort nachgestellt hatte mit seinem Gewehr und mit den Fangeisen, die er, im Unterholz versteckt, ausgelegt hatte, selbst das Bild dieses Jägers war schon verblasst, so dass ich mich bald gar nicht mehr seiner erinnern konnte, ja dass er alle Bedeutung für mich verlor.


Den ganzen Beitrag lesen »

Die Wunde (III)

Freitag, den 23. Februar 2007

Wolf

Sehr lange noch blieb es so an meiner Seite sitzen und sprach zu mir. Es erzählte von den Menschen, die offenbar doch in dem Dorf leben mussten, wenn ich sie auch nicht bemerkt hatte. Und so hörte ich von dem Kleinen Mädchen, wie diese Menschen über mich sprachen, dass sie mich einen grausamen Mörder nannten, der gnadenlos umgehe in diesen Wäldern und wahllos töte, was immer ihm in den Weg komme. Dass ich blutrünstig sei, eine gefährliche Bestie. Und während das Kleine Mädchen all das sagte, hörte es nicht auf, mich in seiner furchtlos zärtlichen Art zu streicheln und zu kraulen, obgleich es doch den Erzählungen der Menschen nach allen Grund zur Furcht vor mir gehabt hätte.


Den ganzen Beitrag lesen »