Majakowskis Gehirn
Dienstag, den 29. Mai 2007„Wartet mal“, sagte da Olescha. „Das ist noch gar nichts. Das Unheimlichste, Unfaßbarste bei aller Stofflichkeit habe ich gestern in der Gendrikow-Gasse gesehen, Majakowskis Gehirn. Ich sah es. Oder doch beinah. Jedenfalls wurde Majakowskis Gehirn an mir vorbeigetragen.“Und Olescha erzählte in wirrer Folge, was er später in seinem Buch „Kein Tag ohne eine Zeile“ mit einzigartiger künstlerischer Identität geschildert hat.
„Plötzlich drangen laute Geräusche aus seinem Zimmer, sehr laute, rücksichtslos laute. Es hörte sich an, als ob jemand Holz hackte. Sein Schädel wurde geöffnet. Still horchten wir, von Entsetzen gepackt. Alsdann kam ein Mann aus dem Zimmer, Krankenwärter oder Sanitäter, jedenfalls kannte ihn keiner von uns. Der Mann trug eine Schüssel, zugedeckt mit einem weißen Tuch, das sich in der Mitte zu einer kleinen Pyramide wölbte. Als ob dieser Soldat in weißem Kittel und Schaftstiefeln die Osterquarkspeise trüge. In der Schüssel lag Majakowskis Gehirn…“
••• Das Verhältnis zu Bunin beschreibt Katajew ganz als eines zwischen Lehrer und Schüler, wenngleich auch befreundeten. Ganz anders ist der Ton, wenn Katajew im letzten Drittel des Buches auf Majakowski zu sprechen kommt. Ganz anders auch war das Verhältnis. Majakowski war zur Zeit ihres Zusammentreffens eine Institution in der jungen Sowjetunion. Sein Status war so marmorn, dass er sich Unangepasstheit ganz selbstverständlich erlaubte. Ein Zugstier der Dichtung, ein Alleskönner der Poesie, der über die Grabenkämpfe zwischen den ungezählten literarischen Strömungen dieser Zeit schmunzelnd hinwegsah. Ein Popstar? Vielleicht, doch einer mit Format, wie man einen heute kaum finden würde.
All die Literaten, Dichter, Theaterleute überzog er mit seinem legendären Spott. Und doch: bei aller Gegensätzlichkeit, die jene Autoren des damaligen sowjetrussischen Literaturlebens verkörperten, kamen sie doch immer wieder auch wie eine Familie zusammen. An jenem Abend im Juli 1930 beispielsweise – in Katajews Wohnung. Majakowski schrieb an jenem Abend und in jener Nacht Zettelchen mit Liebesbotschaften, die einer Schauspielerin galten, die zwischen ihm und ihr quer durchs Zimmer durch die Luft flogen und schliesslich, als Majakowski ging, zerknüllt in der ganzen Wohnung verstreut lagen.
Am kommenden Morgen erfuhren die Freunde, dass Majakowski sich mit der Mauserpistole, die er stets mit sich zu tragen pflegte, ins Herz geschossen hatte. Wie wenig Dichtung heute noch gilt, kann man ermessen, wenn man Katajews Bericht liest vom „Tag danach“. Dergleichen wäre heute undenkbar.