Archiv der Kategorie 'Prosa'

Seelen am Ufer des Acheron

Samstag, den 24. März 2007

Der Gedanke, dass ich einmal nicht traurig sein könnte, macht mir Sorge, und Sorge macht mir auch, eines Tages mein Gesicht im Spiegel zu sehen und zu wissen: Das bin nicht mehr ich, das sind nicht mehr meine Augen, ist nicht mehr mein Mund. Wo wird der Mensch sein, der mich dann noch erkennt? Mitunter gelingt es mir, einen Schmerz zu fühlen, der nicht der meine ist. Ich sehe einen Menschen an und erkenne sein Unglück als auf mich abstrahlend. Ich bin ganz eingekesselt von diesem Schein. Was tust Du da? Frage ich. Ich öffne einen Weg für dich nach unten, sagt die Gestalt.

Michael Perkampus, aus:
„Seelen am Ufer des Acheron“ (Roman)
© 2007 Edition Neue Moderne

••• Eine inspirierende Lektüre: poetisch, verstrickt, energiegeladen. Ich werde ausführlich darüber berichten, wenn mir neben der elektronischen Ausgabe auch das Buch vorliegt.

Den zitierten Absatz wollte ich mir an dieser Stelle öffentlich merken. Nachdem ich ihn gelesen hatte, legte ich das Script beiseite und war den Rest des Tages guter Dinge.

Ein anderes Blau

Donnerstag, den 22. März 2007

Ives Klein: Obsession de la lévitation (Foto: Harry Shunk)
Ives Klein: Obsession de la lévitation (Foto: Harry Shunk)

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Handwerker mit Marotte

Mittwoch, den 21. März 2007

Antonio Skármeta••• In Berlin-Friedrichshagen, wo ich aufgewachsen bin, gab es zwei Biliotheken. Eine für Kinder und eine für Erwachsene. Die Kinderbibliothek lag prominent, direkt auf der Bölschestrasse, die zu früheren Zeiten einmal des Fritzen Seidenpromenade hinunter zum Müggelsee gewesen war. Sobald ich lesen konnte und mir die ABC-Bücher nicht mehr ausreichten, wurde ich dort angemeldet. Wir hatten es finanziell nicht so üppig; und bei meinem Lesehunger mussten es geborgte Bücher auch tun. Taten sie auch. Eine Zeit lang jedenfalls. Dann hatte ich mich wurmgleich durch die Bestände gefressen. Ich hatte auch für mein Alter etwas unpassende literarische Interessen. Kurz: Ich wollte in diese andere Bibliothek, die für die Erwachsenen, für die ab 18, die abseits lag, in einer Seitenstrasse unserer Prachtallee. Es gab da nur einen Haken: Ich war halt erst 12.

Meine Mutter hat aber gleich eingesehen, dass das keine Rolle spielen dürfe, und ist mit mir dorthin. Es hat sie einige Mühe gekostet; aber irgendwie führte dann doch ein Weg zum Ziel, und ich bekam den ersehnten Bibliotheksausweis und damit den Zugang zu dem durchaus guten Bestand dieser Bibliothek. Dort fand ich auch Antonio Skármeta, und zwar alle seine auf deutsch erschienenen Romane und Erzählungen, und ich habe sie mir der Reihe nach einverleibt.

Skármeta hat so eine persönliche Marotte. Die Vokabel tut ihm vielleicht unrecht. Aber ich empfinde es so. In (fast) jedem Roman gibt es – so circa um Seite 123 herum – eine explizite erotische Szene. Das hat mir als Pubertierenden die Lektüre der Romane bis hin zu diesem erzählerischen Meilenstein jeweils stark versüsst. Er hätte sich quasi alles erlauben können, sogar ganz furchtbar langweilig zu sein (was er nie war); ich hätte doch zumindest bis zu dieser Stelle durchgehalten.


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Brennende Geduld

Dienstag, den 20. März 2007

Antonio Skármeta: Mit brennender GeduldAm Abend des 4. September ging eine aufregende Nachricht um die Welt: Salvador Allende, der erste Marxist, der die Wahlen in Chile gewonnen hatte, demokratisch gewählt.

Innerhalb weniger Minuten war das Gasthaus der Doña Rosa krachendvoll mit Fischern, Frühlingsausflüglern, Schülern, die am nächsten Tag freihatten. Pablo Neruda war unter ihnen, als eine Art Statist; er hatte seine Wohnung verlassen, um den von weit her kommenden Telefonaten internationaler Agenturen zu entfliehen, die ihn interviewen sollten. Die Aussicht auf bessere Tage brachte Gäste dazu, das Geld mit lockerer Hand auzugeben, und Rosa wußte sich nicht anders zu helfen, als daß sie Beatriz aus ihrem Gefängnis befreite, damit sie eine Stütze bei der Arbeit hatte.

Mario Jiménez hielt sich in unvorsichtiger Entfernung. Als der Telegrafist aus seinem klapprigen Ford 40 stieg, um sich unter die Feiernden zu mischen, betraute der Briefträger ihn mit einer Mission, die sein Chef, in seiner politischen Hochstimmung, mit Wohlwollen entgegennahm. Es ging um eine Art Kuppeldienst: er sollte in einem günstigen Augenblick Beatriz zuflüstern, daß er sie in dem nahe gelegenen Schuppen mit den Fischereigerätschaften erwartete.

Der entscheidende Moment ergab sich, als der Abgeordnete Labbé in seinem Anzug, so weiß schimmernd wie sein Lächeln, überraschend das Lokal betrat und unter den Sticheleien der Fischer – „sácate la cola!“ – bis zu dem Tisch ging, an dem Neruda ein paar Gläschen trank, und mit Versaille-Geste zu ihm sagte: „Don Pablo, so sind die Regeln der Demokratie. Man muß verlieren können. Die Besiegten grüßen die Sieger.“

„Zum Wohl also, Abgeordneter“, erwiderte Neruda, bot ihm ein Glas Wein an und hob sein eigenes, um mit Labbé anzustoßen.

Die Gäste klatschten, die Fischer riefen: „Es lebe Allende!“ und dann: „Es lebe Neruda!“, und der Telegrafist überbrachte vorsichtig Marios Botschaft und berührte dabei mit seinen Lippen fast das sinnliche Ohrläppchen des Mädchens.

Sie ließ den Weinkrug stehen und band die Schürze ab, nahm ein Ei vom Tisch und ging barfuß im Licht der sternklaren Nacht zum Stelldichein.

Als sie die Tür zum Schuppen öffnete, konnte sie mitten unter den wirren Netzen den Briefträger erkennen, der auf einem Schuhmacherbänkchen saß, das Gesicht grell beleuchtet von dem orangefarbenen Schein einer Petroleumlampe. Mario seinerseits konnte, mit der gleichen Rührung wie bei der ersten Begegnung neben dem Fußballtisch, den kurzen Rock und die enge Bluse wahrnehmen. Gleichsam in Übereinstimmung mit seinen Gedanken hob das Mädchen das ovale, zerbrechliche Ei hoch, und nachdem sie die Tür mit dem Fuß zugestoßen hatte, führte sie es an ihre Lippen, senkte es auf ihre Brust und ließ es abwärts gleiten, indem ihre tänzelnden Finger der beweglichen Rundung folgten, und weiter zur Magengegend und zum Unterleib, knickte es vor ihrem Geschlecht, verbarg es im Dreieck ihrer Beine, dann nahm sie es unvermittelt in die Hand und heftete einen heißen Blick in Marios Augen. Er wollte aufstehen, aber das Mädchen hielt ihn mit einer Geste zurück. Sie legte das Ei an die Stirn, rollte es über die kupferfarbene Haut und über die Nase zu den Lippen und umschloß es mit dem Mund, hielt es mit den Zähnen fest.

In ebendiesem Moment wurde es Mario klar, daß die monatelang so getreulich ertragene Erektion ein Hügelchen war, verglichen mit dem Gebirge, das nun von ihm aufstieg, mit dem Vulkan und seiner ganz und gar nicht metaphorischen Lava, die sein Blut zum Sieden brachte, ihm den Blick trübte, selbst seinen Speichel in eine Art Sperma verwandelte.

Beatriz bedeutete ihm, sich hinzuknien. […]

Antonio Skármeta, aus: „Brennende Geduld“
© Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1985

••• Brennende Geduld – das ist der poetische Originaltitel eines Buches, das viele in Deutschland nur unter dem Buch-zum-Film-Titel „Il Postino“ oder auch „Der Postmann“ kennen. (Wie grausam können Verlage zu einem Autor sein, ihn eines solchen Titels zu berauben um des schnöden Cross-Marketing-Mammons willen!)

In brennender Geduld muss auch ich mich üben, und zwar so oft, dass mir dieser Begriff als geflügeltes Wort in den Stammwortschatz übergegangen ist. Aber das ist nicht der Grund, warum ich hier heute Skármeta zitiere. Auch Pablo Neruda ist nicht der Grund, lediglich der Anlass, handelt doch das Buch vom Briefträger des großen Dichters, der durch ihn die Welt der Metaphern kennenlernt, mit deren Hilfe er dann die schöne Beatriz umgarnt etc. pp.

Nein, das alles ist nicht der Grund. Nicht einmal der Sex ist der Grund, der hier ja vielleicht noch stattgefunden hätte, wenn ich weiter zu zitieren bereit gewesen wäre. Aber – um die erotische Szene geht es hier eben nicht. Und darauf will ich hinaus. Und deswegen müssen die geneigten Turmsegler-Leser schon selbst das Buch hernehmen, um herauszufinden, wie es hier weiter zur Sache ging.

Ich werde nur den letzten Satz des Kapitels verraten, bevor ich mich auf morgen vertage. Der letzte Satz des Kapitels gehört Beatriz, die ihn mit „heiserer Stimme“ spricht: „Es ist doch schon gekommen, du Dummer.“

over the bones

Mittwoch, den 14. März 2007

••• Was ist schon das Schlachtfeld der Liebe gegen das Schlachtfeld der Kindheit?

In manchen Biographien findet der totale Krieg bereits in den ersten Jahren statt, so dass alles Folgende nur als Scharmützel erscheint. Von solchen Kämpfen berichtet Susanne Englmayer auf „over the bones“. Das sind Geschichten, die man so schnell nicht vergisst, Geschichten, die tiefste Verletzungen schildern wie im Vorbeigehen.

Sie spielen Vater Mutter Kind. Meistens im Sommer. Decken sind auf der Wiese ausgebreitet. Stellen die Wohnungen dar. Bunte Flecken im Grün. Das Spiel ist einfach. Man legt sich schlafen. Steht wieder auf. Der Vater verläßt die Wohnung. Essen wird gekocht. Kinder versorgt. Ab und zu gehen die Mütter einkaufen. Bis an den nächsten Hauseingang. Der ist das Geschäft. Die Decken bleiben dann verlassen. Für eine Weile. Aber nicht lange. Die Jungs spielen die Väter. Viel haben sie nicht zu tun. Sie kommen nach Hause, um sich auf der Decke auszustrecken. Nach einer Weile stehen sie wieder auf. Beeilen sich, den Ort der Handlung zu verlassen. Sie warten dann abseits und spielen Karten. Autoquartett. Oder kritzeln mit geeigneten Steinen großflächig auf den Fußwegen rum. Die jüngeren Geschwister, die, auf die die Mädchen aufpassen müssen, jeden Tag, zwei Stunden lang, sind die Kinder. Sie haben den angenehmsten Part. Dürfen jammern und quengeln. Dürfen wieder Babys sein. Auch wenn sie schon größer sind. Dürfen sich tragen und ziehen lassen. Dürfen allen auf die Nerven gehen. Besonders den Mädchen.

Susanne Englayer - Lucas (Roman)Harmlos beginnt Susanne Englmayers Geschichte „Camouflage“, um unvermittelt und drastisch die Perspektive zu wechseln vom Idylle konservierenden Spiel hin zum realen Kriegsgeschehen eines Familienlebens, das im Spiel auf der Sommerwiese nicht vorkommt.

Ich erinnere mich an eine Kindheitsfreundin, die ich sehr mochte. Auch sie wollte immer Familie spielen. Sie nannte es allerdings anders: Lass uns Ehekrach spielen! Dabei leuchteten ihre Augen. Sie lebte allein mit ihrer Mutter. Ich sollte sie lieber nicht zum Geburtstag einladen, meinte meine Mutter. Sie sei so ungezogen, so laut. Wenn wir spielten, schrie sie mich an. Ich wollte sie eigentlich immer umarmen. Aber, so muss sie wohl gemeint haben, das kommt in Familien nicht vor. In den von Susanne Englmayer geschilderten sicher nicht. In denen ist der Krieg alltägliche Realität.

Unter der Überschrift „selbst bewußtsein“ schreibt die Autorin:

‚over the bones‘ will nicht viel, nur ein paar geschichten erzählen, auf die eine oder andere art. dabei wird kaum aufwand betrieben, wenig überarbeitung im vorfeld und noch weniger korrektur in der nachbearbeitung. tipfehler und grobe unstimmigkeiten erlaube ich mir allerdings jederzeit abzuändern.

ist es also literatur? oder nur gerede, geplauder? wir werden sehen.

Gerede, Geplauder? Sowas macht keine Gänsehaut. Aber soll sie nur weiter „plaudern“. Camouflage ist nicht die einzige lesenswerte Geschichte auf diesem Autoren-Blog, das also ganz schnell „Auf die Rolle“ kommt.

PS: Nein, ich bin noch nicht am Ende mit Pablo Neruda

Von Menschen und Sternen

Sonntag, den 11. März 2007

Darstellung der Gefiederten Schlange am Tempel des Quetzalcoatl in Teotihuacán

„Was beunruhigt dich, Vater Quetzalcóatl? Welcher Stern am Firmament bewegt sich nicht so, wie du es berechnet hast?“

„Es sind nicht die Sterne, die mich gegenwärtig beunruhigen, Tatle; die Menschen sind es. Die strenge Schönheit der Gestirne hatte sie mich vergessen lassen. Sie ziehen eine feste Bahn, deren Gesetz sie befolgen und das wir nur erkennen müssen, um zu wissen, wie sie sich weiterhin bewegen werden; aber die Menschen richten ihr Verhalten nicht nach feststehenden Gesetzen aus. Ich kann mit meinen Schnüren und Zahlen nichts berechnen. Wir leben auf einem Stern, der eine regelmäßige Bahn durchläuft; aber die Menschen, die auf ihm steuern, verfahren ganz nach Lust und Laune. Jetzt wollen sie dies und morgen das. Heute schätzen sie gering, was sie gestern beunruhigte. Die einen lieben, und andere hassen; einige geben, und andere nehmen fort, und morgen ist es genau umgekehrt. Diese Welt schleppt bei all ihrer Regelmäßigkeit eine wirre Sphäre von Willkür mit sich.“

„Du hast recht“, stimmte Tatle zu. „Ich verstehe die Welt der Menschen nicht, obwohl ich selbst einer von ihnen bin. Häufig verstehe ich nicht einmal das, was in mir vorgeht. […]“

José López Portillo y Pacheco, aus: „Quetzalcóatl“
© Insel Verlag, Frankfurt am Main 1978

••• Es hat sich doch gelohnt, das Buch noch einmal zu lesen. Der grosse Zauber will sich nicht mehr einstellen, aber es blitzt doch hier und dort noch eine Ahnung davon auf. Wie kommt es, dass mir die Märchenerzähler der Azteken als die grösseren Dichter erscheinen? Sie berichten von Sternen, Menschen und Dingen. Sie dozieren nicht. Sie erzählen. Sie philosophieren nicht. Der Dichtung tut es nicht gut, wenn wir über die Dinge reden, statt von ihnen zu sprechen oder sie selbst sprechen zu lassen.

Quetzalcóatl

Sonntag, den 4. März 2007

Quetzalcoatl und Tezcatlipoca

Die dunkle Nacht, der Wind und das Meer warfen ihn auf den Strand. Hier lag er fest, an seinen Balken gebunden. Bedeckt von Schaum. An die Erde gepreßt, in ihre sanfte Krümmung geschmiegt wie das Kind an die Mutter.

Nackt und ohne Erinnerung. Nur sein nächtliches Wachen hatte in ihm selbst wie ein Stern zwischen dem Wind und den Finsternissen gestrahlt. Innen. Draußen brüllten der Sturm und der Wirbel.

Die ersten Lichter eines neuen Tages und die Stille fanden ihn hingestreckt am Strand. Er erinnerte sich nur an die Richtung seines Ursprungs, die aufgehende Sonne und das Kreuz der vier Winde, an das er festgebunden war und das ihn auf dem Meere schwimmend unter dem Heulen des Sturmes bis zu diesem vom Wasser getrennten Land, inmitten Wind und Nacht, getragen hatte.

Er war nackt, ohne Erinnerung, nur gewillt, weiterzuleben. Vor Not von Sinnen. Sein Bewußtsein brachte es bloß zu Angst und Einsamkeit.

Bin ich noch jemand, fragte er sich endlich, als der Schmerz ihn gegen den Felsen warf und ihm Kraft und Bewußtsein schwanden; der Funke seines Wachens erlosch, und es blieb nur ein graues Sausen zurück, das dem Tod sehr ähnelte und in seinem geschwollenen Mund nach Blut und nach Salz schmeckte.


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