Archiv der Kategorie 'Prosa'

Chelsea, Auster, Moon

Mittwoch, den 6. Juni 2007

Paul Auster / Sam Messer - Cover der japanischen Ausgabe von 'The Stoy of My Typewriter'••• Vor 11 Jahren – 1996 – war ich zum ersten Mal in New York. Den Flug hatte Egon Ammann bezahlt. „Das ist Deine Stadt, hier musst Du unbedingt hin!“ hatte er mir geschrieben, handschriftlich auf Luftpostpapier aus einem New Yorker Hotel. Dieser Brief und das Flugticket waren mir geradezu ein Liebesbeweis. Und das von meinem Verleger. Ich war im siebten Himmel.

Tatsächlich fühlte ich mich in New York wie zu Hause, als ich schliesslich dort ankam. Da ich nur wenig Geld hatte, stieg ich in einem preiswerten, so genannten Jugendhotel ab. Das ertrug ich allerdings nur eine Nacht. Das Klo war verstopft; und die Kakerlaken in mir bis dahin unbekannten Grössen liefen nachts munter über die Bettdecke, so dass ich am nächsten Tag umgehend auscheckte und erneut auf Hotelsuche ging.


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Timber

Montag, den 4. Juni 2007

Gelehrt haben mich Feen eine Sprache des Mooses
Gesprochen wird sie liegend im Farn
So klingen märchenhafte Vibrationen
Noch lange nach und stimulieren die verkümmerte Sicht
Der Menschensöhne

Tot fand sich sie am Waldesrand
Ein Sommerspiel auf ihren Lippen
Sie wär’ die Liebste mir gewesen
Ein Elfenkind mit scheuem Blick

Ich frage den Bach nach ihrem Namen:

Siehst du nun das Unheil an?
Der Traum hat sich dir eingemischt
Und offenbart dir unvereint
Wie er das Leben schmähen wird

Wie sie dort liegt
Bedeckt sie nur der Sonnenstaub

Bedeckt sie nur ein Trauerblick

Bedeckt sie nicht mein Antlitz
Kannst du mir sagen, wer sie war?

Sie war und ist ein Traumgespinst
Ihr Name ist ein Stachelband
Weil sie dir angetan
Du träumst den Tag, du lebst die Nacht
Sie bietet dir ihr Leben bar

Wie sollte ich es nehmen?

Sie starb in deiner Welt weil du erwacht bist
Stirb du in ihrer, schlafe ein

© Michael Perkampus (2007)
aus dem Zyklus: „Timber“

••• Im Beitrag von gestern kamen die Zyklen „Timber“ und „Die Glyphen von L’abyr“ bereits zur Sprache. Märchenhaft geht es hier zu. Der Leser wird in eine Feenwelt entführt. Und ganz anders als noch in den Gedichten von „Ouroboros Stratum“ tritt hier ein viel sanfterer, lyrischerer Autor zutage. In diese Gedichte muss man sich einfach hineinfallen lassen; sie tragen einen fort von Gedicht zu Gedicht, von Station zu Station der Traumreise.

„Timber“ und die „Glyphen“ hat Perkampus als Tonwerk herausgebracht. Einige – glücklicherweise aufeinander folgende – Gedichte sind auch in seinem Podcast gesendet worden. Leider sind beide Zyklen noch nicht am Stück gedruckt oder per Weblog nachzulesen.

„Ouroboros Stratum“, „Timber“ und die „Glyphen von L’abyr“ (letzteres für mein Verständnis nichts anderes als der 2. Teil des Timber-Zyklus) – wäre ich Verleger, das wäre ein Band, den ich machen würde.

Michael Perkampus liest: Timber 1. Timber

Ignaz

Freitag, den 1. Juni 2007

Nach Iswaly mußte er im Waggon eines Güterzuges fahren, zusammen mit Schweinen, die auf ihren dicken, fetten Hintern saßen und grunzten. Die Schweine wurden als Zuchttiere zu einem reichen Gutsbesitzer geschickt; ein Gärtner des Gutsherrn begleitete den Transport. Es war ein sauberer, stiller Mann, der früher im Haus bedienstet gewesen war. Außer ihm, Ignaz und den Schweinen reiste noch ein Jude in dem Güterwagen, ein Mann mit großem Kopf, krausem, ergrautem Haar und Bart, mit einer Brille, einen steifen Hut auf dem Kopf; sein fußlanger Mantel war an manchen Stellen noch dunkelblau, aber an vielen Stellen bereits abgeschabt und hellblau; die Taschen saßen ganz tief. Er schwieg die ganze Zeit, war nachdenklich, ernst, trank Tee und summte irgendeine Melodie. Der Gärtner schlummerte. Die Schweine saßen in dem Holzverschlag, mit grauen Wolldecken zugedeckt, auf denen gestickte Initialen und Kronen prangten. Es dämmerte, der Wind trug Schnee durch die offene Tür herein und zerrte an dem feuchten Stroh unter den Schweinen. Die Felder schimmerten in trübem Weiß, die dunklen Sträucher fingen den Rauch aus der Lokomotive auf. Ignaz wurde von einer tiefen, unerklärlichen Schwermut gequält. Mit gerunzelten Brauen, die Zähne fest zusammengebissen, stand er an der Tür, knackte Sonnenblumensamen und schielte zu dem Juden hinüber. Der Jude saß auf einer umgestürzten Kiste und hielt in seiner großen, mit violetten Adern bedeckten Hand eine Tasse Tee. Die Schalen der Sonneblumenkerne flogen mit dem Wind, eine Schale fiel in die Teetasse. Der Jude blickte lange und erregt durch seine Brille auf Ignaz. Ignaz wartete ab, was der Jude sagen würde, um ihm bei seinen ersten Worten mit dem Stiefel in die Brust zu stoßen. Aber der Jude sagte nichts: er erhob sich nur und goß den Tee absichtlich ganz dicht neben Ignaz‘ Füßen aus, neben seinen breiten, flachen Militärstiefel.

Ivan Bunin, aus der Erzählung „Ignaz“

••• Eine Probe der Buninschen Prosa wollte ich nach dem vorletzten Beitrag doch nicht schuldig bleiben.


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Beängstigender Realismus

Freitag, den 1. Juni 2007

Ivan Bunin••• Als ich zum erstenmal Katajews „Gras des Vergessens“ las, konnte ich von Ivan Bunin kein einziges Gedicht, keine Erzählung auftreiben. Online-Portale für Bibliophile gab es damals noch nicht. Solcherlei musste damals in Antiquariaten erstöbert werden. Das war mühsam. Bei manchen Autoren war es auch nicht vielversprechend. Bunin, obgleich Nobelpreisträger, zählte zu den hoffnungslosen Beschaffungsfällen – jedenfalls dort, wo ich lebte: auf der Sibirien zugewandten Seite des Eisernen Vorhangs. Jetzt habe ich endlich die Lektüre nachgeholt. Gedichte von ihm habe ich immer noch nicht ins Haus bekommen; dafür aber einen Band mit Erzählungen.

Ich kann nur allen, die hier mitlesen und selbst schreiben, dazu raten, sich Prosa von Bunin zu beschaffen. Sein Realismus ist beängstigend. Da ist nichts zu viel, alles am richtigen Ort und alles und jedes mit wenigen Strichen wie fotografiert.

Aber ja, das ist natürlich mega-out, ruft’s da aus dem postmodern sozialisierten Publikum. Alles Unfug!, dachte ich mir heute. Was gäbe das für Geschichten ab, meinetwegen Romane, die sich all jenen magischen, sogar mystischen Sujets zuwenden, bizarrste Visionen schildern und Gegen- und Parallelwelten – jedoch in der Klarheit, Unverkünsteltheit und Plastizität des Buninschen Realismus…

Nicht auszudenken.

Für sachdienliche Hinweise auf brauchbare Übertragungen von Bunin-Gedichten ins Deutsche wäre ich sehr dankbar

Majakowskis Gehirn

Dienstag, den 29. Mai 2007

„Wartet mal“, sagte da Olescha. „Das ist noch gar nichts. Das Unheimlichste, Unfaßbarste bei aller Stofflichkeit habe ich gestern in der Gendrikow-Gasse gesehen, Majakowskis Gehirn. Ich sah es. Oder doch beinah. Jedenfalls wurde Majakowskis Gehirn an mir vorbeigetragen.“Und Olescha erzählte in wirrer Folge, was er später in seinem Buch „Kein Tag ohne eine Zeile“ mit einzigartiger künstlerischer Identität geschildert hat.

„Plötzlich drangen laute Geräusche aus seinem Zimmer, sehr laute, rücksichtslos laute. Es hörte sich an, als ob jemand Holz hackte. Sein Schädel wurde geöffnet. Still horchten wir, von Entsetzen gepackt. Alsdann kam ein Mann aus dem Zimmer, Krankenwärter oder Sanitäter, jedenfalls kannte ihn keiner von uns. Der Mann trug eine Schüssel, zugedeckt mit einem weißen Tuch, das sich in der Mitte zu einer kleinen Pyramide wölbte. Als ob dieser Soldat in weißem Kittel und Schaftstiefeln die Osterquarkspeise trüge. In der Schüssel lag Majakowskis Gehirn…“

Valentin Katajew
aus: „Das Gras des Vergessens“

Wladimir Majakowski 1916••• Das Verhältnis zu Bunin beschreibt Katajew ganz als eines zwischen Lehrer und Schüler, wenngleich auch befreundeten. Ganz anders ist der Ton, wenn Katajew im letzten Drittel des Buches auf Majakowski zu sprechen kommt. Ganz anders auch war das Verhältnis. Majakowski war zur Zeit ihres Zusammentreffens eine Institution in der jungen Sowjetunion. Sein Status war so marmorn, dass er sich Unangepasstheit ganz selbstverständlich erlaubte. Ein Zugstier der Dichtung, ein Alleskönner der Poesie, der über die Grabenkämpfe zwischen den ungezählten literarischen Strömungen dieser Zeit schmunzelnd hinwegsah. Ein Popstar? Vielleicht, doch einer mit Format, wie man einen heute kaum finden würde.

All die Literaten, Dichter, Theaterleute überzog er mit seinem legendären Spott. Und doch: bei aller Gegensätzlichkeit, die jene Autoren des damaligen sowjetrussischen Literaturlebens verkörperten, kamen sie doch immer wieder auch wie eine Familie zusammen. An jenem Abend im Juli 1930 beispielsweise – in Katajews Wohnung. Majakowski schrieb an jenem Abend und in jener Nacht Zettelchen mit Liebesbotschaften, die einer Schauspielerin galten, die zwischen ihm und ihr quer durchs Zimmer durch die Luft flogen und schliesslich, als Majakowski ging, zerknüllt in der ganzen Wohnung verstreut lagen.

Am kommenden Morgen erfuhren die Freunde, dass Majakowski sich mit der Mauserpistole, die er stets mit sich zu tragen pflegte, ins Herz geschossen hatte. Wie wenig Dichtung heute noch gilt, kann man ermessen, wenn man Katajews Bericht liest vom „Tag danach“. Dergleichen wäre heute undenkbar.


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Manieriert, kokett, prätentiös

Montag, den 28. Mai 2007

Valentin Katajev••• Regeln sind dafür da, gebrochen zu werden. Ich weiss, dass einige Turmsegler-Leser das ebenso umgehend unterschreiben würden wie Valentin Katajew, der für den forschen Regelbruch gar einen Gattungsbegriff prägte: Mauvismus.

Mauvismus, das ist die Kunst des schlechten Schreibens. Etwa: Er antwortete „nach Ablauf einer gewissen Menge eines physikalischen Maßes, das in bestimmten Kreisen Zeit genannt wird.“ Oder auch das wiederholte unmittelbare Widerrufen einer soeben gemachten Aussage: Ich wusste genau, was er wollte. Ich wusste nicht im Geringsten, was er wollte. Er hatte Blau ausgewählt, vielleicht hatte er auch Grün ausgewählt.

„Ich bin Mauvist!“ Wann immer Katajew dies ausruft, ist allerdings auch ein wenig Augenzwinkern dabei. Er zieht den Mauvismus-Trumpf als Generalentschuldigung. Denn Katajew wusste ausserordentlich genau, wo „schlechtes Schreiben“ beginnt. Und er konnte es sich – in sparsamen Dosen – erlauben, weil er im Übrigen ein brillianter Handwerker der Sprache war.


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Das Spiel mit den Wirklichkeiten

Freitag, den 25. Mai 2007

Ein Gastbeitrag von Markus A. Hediger
zu Jorge Luis Borges

••• Nicht alle Erzählungen von Borges untermauern seinen Ruf als herausragenden Autor. Nebst den phantastischen Geschichten, für die er bekannt wurde und durch die er Weltruhm erlangte, gibt es auch die vielen anderen. Diese Erzählungen sind solides Handwerk. Gut erzählt, stilsicher geschrieben, darin unverkennbar Borges, ja, aber nichts Aussergewöhnliches. Sie erzählen von Begebenheiten, die geschehen sein könnten, aber ebenso gut nicht, es sind Präzisierungen, vorgenommen durch einen Mann, der die durch den Volksmund verbreitete Folklore in eine literarische Form einpasst. Für den Leser ist es völlig belanglos, ob die berichteten Ereignisse tatsächlich geschehen oder Erfindung sind – während der Lektüre werden sie wahr und geben keinerlei Anlass, an ihnen zu zweifeln. Die Wirklichkeit des Berichteten ist die Wirklichkeit des Lesers. Ich denke da zum Beispiel an „Der Tote“, „Die Narbe“ oder „Die Geschichte des Rosendo Juárez“. Einigen seiner Erzählungen schreibt Borges persönlich eine realistische Qualität zu.

Und dann gibt es da die anderen Erzählungen, in denen die Wirklichkeiten ineinander greifen, ineinander wirken und die Wirklichkeit des Lesers – zumindest während der Zeit der Lektüre – in Frage stellt. „Das Aleph“, zum Beispiel, beginnt mit einer langatmigen Schilderung einer nervtötenden Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und einem Dichter furchtbar schwülstiger und pompöser Werke, man fragt sich als Leser, wohin die Erzählung führen soll, dann diese Passage:

Nun komme ich zum unsagbaren Mittelpunkt meines Berichts; hier beginnt meine Verzweiflung als Schriftsteller. Alle Sprache ist ein Alphabet aus Symbolen, deren Anwendung eine den Gesprächspartnern gemeinsame Vergangenheit voraussetzt; wie soll ich anderen das unendliche Aleph mitteilen, das mein furchtsames Gedächtnis kaum erfasst? […] In diesem gigantischen Augenblick habe ich Millionen köstlicher und grässlicher Vorgänge gesehen; keiner erstaunte mich so sehr wie die Tatsache, dass sie alle in demselben Punkt stattfanden, ohne Überlagerung und ohne Transparenz. Was meine Augen sahen, war simultan: was ich beschreiben werde, ist sukzessiv, weil die Sprache es ist.


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