Archiv der Kategorie 'Prosa'

Der Kopist

Donnerstag, den 26. Juli 2007

Nur zweimal ließ ich es zu, daß er mich berührte. Nur zweimal, und beide Male durch den Spiegel.

Teresa Ruiz Rosas

••• Bereits als Kind entdeckte Teresa Ruiz Rosas ihre Leidenschaft für die Literatur. Schon mit 18 Jahren erhielt sie den peruanischen Literaturpreis Enrique-Huaco. Ihr erster Roman „El Copista“ war in Spanien ein Überraschungserfolg und erschien auf Deutsch unter dem Titel „Der Kopist“ im Ammann-Verlag. Teresa erzählt darin eine verhängnisvolle Dreiecksgeschichte; und sie erzählt sie aus zwei Perspektiven: der des Kopisten Amancio Castro und jener der schönen Marisa, die sowohl von dem Komponisten Don Lope Burano als auch von seinem Kopisten Amancio begehrt wird.

Dieses Erzählen einer Geschichte aus den sehr unterschiedlichen Perspektiven der Hauptpersonen hätte allein schon mein Interesse geweckt. Sich einem Geschehen auf diese Weise zu nähern, ähnelt der Art, wie Amancio Castro Marisa berührt: im Spiegel. Nur sind es mehrere Spiegel, die Spiegel der Wahrnehmung verschiedener Menschen.

Das Spiegelspiel (siehe unten), das Marisa und Amancio spielen, steht so auch für die Erzählweise oder vice versa. Und es gibt noch mindestens eine weitere derartige Doppelbödigkeit in diesem kleinen, wundervollen Buch: Amancio ist Kopist. Er kopiert für die Musiker die einzelnen Solostimmen aus der Orchesterpartitur heraus. Aber er ist auch Musiker und Komponist oder doch eher ein verhinderter Komponist. Es kommt ihm jeweils vor, als kenne er die Musik, die er kopiert, bereits, als sei diese Musik in ihm, doch ein anderer hätte sie niedergeschrieben; und ihm bleibe nun nur das Abschreiben der Noten.


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Das Gottesspiel

Montag, den 23. Juli 2007

Über Kleinanzeigen sucht und findet ein namenloser Schriftsteller Menschen, die lebensüberdrüssig sind. Er hört sich gegen gutes Honorar ihre Geschichte an, er spricht mit ihnen und gibt ihnen Empfehlungen für ihren Freitod, den er persönlich begleitet. Als Clou verspricht er den Kandidaten, sie als Romangestalt wieder auferstehen zu lassen, wenn sie ihn denn faszinieren. Dies ist Gegenstand des in Südkorea als Skandal gefeierten Romans »Das Gottesspiel«, der jetzt in deutscher Sprache vorgelegt wurde.

••• Das hört sich nach einem interessanten Plot an. Hat einer der geschätzten Turmsegler „Das Gottesspiel“ des Koreaners Kim Young-ha gelesen? Mit Sardanapal — freilich in ganz anderer Interpretation des Bildes von Delacroix als Herr p.- — identifiziere sich der Anti-Held dieses Romans. Via Sardanapal bin ich auch auf die Besprechung bei „Readers Edition“ gestossen. Noch reicht der Teaser nicht, um ein HEYNE-Buch zu bestellen.

Ich bin ja so vorurteilsbeladen…

Allzu laute Einsamkeit

Freitag, den 20. Juli 2007

Bohumil HrabalFünfunddreißig Jahre arbeite ich in Altpapier, und das ist meine love story. Fünfunddreißig Jahre presse ich Altpapier und Bücher, fünfunddreißig Jahre beschmutze ich mich mit Lettern und bin fast schon wie die Enzyklopädien, von denen ich während dieser Zeit an die dreißig Tonnen zerpreßt habe, ich bin wie ein Krug voller Lebenselixier und Gift, es genügt, daß ich mich nur ein wenig neige, und schon fließen lauter schöne Gedanken aus mir, ich bin gebildet gegen meinen Willen, und so weiß ich nicht einmal, welche Gedanken von mir sind, welche aus mir kommen und welche ich nur herausgelesen habe, und so habe ich mich in den fünfunddreißig Jahren mit mir selbst und mit der Welt ringsum verstrickt, denn wenn ich lese, so lese ich ja eigentlich gar nicht, ich picke mir nur eine schöne Sentenz heraus und lutsche daran wie an einem Bonbon, ich schlürfe daran wie an einem Gläschen Likör, bis der Gedanke in mich übergeht wie Alkohol, er sickert in mich hinein, bis er mir nicht nur im Gehirn und Herzen steckt, sondern auch noch alle meine Adern durchbraust bis ins kleinste Blutgefäß. So presse ich in einem einzigen Monat im Schnitt zwanzig Zentner Bücher, um aber Kraft zu haben für diese gottgefällige Arbeit, habe ich in den fünfunddreißig Jahren ein ganzes Fünfzigmeterbecken Bier, einen ganzen Weihnachtskarpfenteich Lagerbier trinken müssen. So bin ich gegen meinen Willen weise und stelle nun fest, mein Gehirn, das sind mechanisch gepreßte Gedanken, ganze Ideenpakete, mein kahlgebrannter Kopf ist eine Aschenputtelnuß, und ich weiß, um wieviel schöner es zu jener Zeit gewesen sein muß, als das Denken nur im Gedächtnis geschrieben stand, hätte damals einer Bücher pressen wollen, er hätte Menschenköpfe pressen müssen, aber auch das hätte nichts genützt, denn die wahren Gedanken kommen von auswärts, sind außerhalb und dann innerhalb des Menschen wie Nudeln in einem Nudeltopf, die Inquisitoren auf der ganzen Welt verbrennen die Bücher vergebens, und wenn die Bücher Gültiges enthalten, hört man sie im Feuer leise lachen, denn jedes ordentliche Buch zeigt immer woandershin und über sich selbst hinaus.

Bohumil Hrabal, aus: „Allzu laute Einsamkeit“
in: „Sanfte Barbaren“ © Suhrkamp Verlag 1987

••• Von Hrabals Erzählung schlich sich zunächst auf ganz unliterarischem Weg nur der Name des gottgefällig biertrinkenden Helden in mein Leben: Hanta.

Zu Zeiten, als Mails noch als „Persönliche Nachrichten“ via Fido- und Z-Netz-Mailboxverbünde ausgetauscht wurden, war es nahezu unmöglich, dass eine Nachricht von einem Absender in einem dieser Netze auch den Adressaten im jeweils anderen Netz erreichte. Schuld waren völlig unterschiedliche Header-Formate und Transportprotokolle. Z-Netz-Mailboxen konnten den Header von Fido-Nachrichten nicht interpretieren und umgekehrt. Diesem Missstand sollte Abhilfe geschaffen werden. Da ich als Softwareentwickler bekannt war, wurde ich von einem Z-Netz-Bekannten, der auch in Berlin wohnte, gefragt, ob ich nicht ein Fido-Z-Netz-Gateway programmieren wollte, das mit beiden Netzen zu sprechen verstünde und Nachrichten vom einen ins andere Format wandeln und ins Zielnetz leiten würde.

Das Gateway sollte Hanta heissen.


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In der Werkstatt

Dienstag, den 17. Juli 2007

••• Nicht in der neuen spa_tien-Ausgabe findet sich Markus A. Hedigers „San Gabriel Drive“. Die Redaktionskonferenz findet eine Fortsetzung nun auf „Hanging Lydia“ in einem Werkstattgespräch, in dem Lesesorgfalt und Beurteilungsmassstäbe auf den Prüfstand gehievt werden.

Der Tod des Sardanapal

Montag, den 16. Juli 2007

Eugéne Delacroix: Der Tod des Sardanapal
Eugéne Delacroix: Der Tod des Sardanapal

George Sand schmauchte ihre Zigarre und notierte alles, was sie hörte. Und wenn nichts gesagt wurde, beschrieb sie das Schweigen.

••• Im obigen Bild fehlt eine Sklavin. Wie und warum sie aus dem Bild verschwunden ist, das erzählt Michael Perkampus in „Der Tod des Sardanapal“, nachzulesen in der neuen spa_tien-Ausgabe.

Unter den Prosaarbeiten im neuen spa_tien-Heft ist mir diese Geschichte geradezu ans Herz gewachsen. Perkampus führt ein Spiel mit möglichen Wirklichkeiten vor. Wir begegnen nicht nur dem Maler Eugéne Delacroix, sondern auch George Sand und Frédéric Chopin, denen Delacroix die unerhörte Entstehungsgeschichte des Bildes erzählt.

Die Fähigkeit zu guter Recherche gehört unbedingt zum Handwerkszeug der schreibenden Zunft. Perkampus platziert seine Geschichte genau in die Lücken, die George Sands Berichte über die Konversationen mit Chopin und Delacroix offen lassen. Für mich war es eine reine Lesefreude.

Die Wendeltreppe

Mittwoch, den 4. Juli 2007

Wendeltreppe in Schloss Granitz / Rügen © Walter Voll

Wendeltreppe in Schloss Granitz / Rügen © Walter Voll

••• Im kleinen Land meiner Kindheit und Jugend gab es nicht viele Möglichkeiten, Urlaub zu machen. Bulgarien, Ungarn und die ČSSR wären mögliche Reiseziele gewesen, lagen aber ausserhalb des finanziellen Spielraums meiner Eltern, die als Akademiker nicht so üppig verdienten wie Angehörige der Arbeiterklasse. Also fuhren wir an die Ostsee, meist in der Nachsaison und meist nach Rügen. Und wenn man dort ist und es nachsaisonal regnet und man nach Ausflugszielen sucht, kommt das Jagdschloss Granitz schnell in die nähere Wahl.

Die Attraktion dieses Schlosses ist der Turm, an dessen Innenwand sich eine gusseiserne Wendeltreppe emporwindet. Über diese Wendeltreppe auf den Turm zu steigen, ist nicht nur für Kinder eine Herausforderung. Durch die durchbrochenen Stufen kann man bis nach unten schauen und – das war damals der Clou – diese Treppe hatte kein Geländer! Lediglich ein Seil baumelte auf Hüfthöhe an der Wand. Zur Turmmitte hin jedoch hätte einen plötzlich Taumelnden nichts aufgefangen. Es versteht sich von selbst, dass es durchaus vorkam, dass den Aufstiegswilligen Abstiegswillige entgegenkamen. Fehltreten durfte man auf dieser Treppe jedenfalls nicht.


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Das Buch der Nächte

Freitag, den 29. Juni 2007

Zu jener Zeit streunten die Wölfe noch in eisigen Winternächten durchs Land und kamen auf Nahrungssuche bis in die Dörfer, wo sie Geflügel, Ziegen und Schafe ebenso rissen wie Esel, Kühe und Schweine. In Ermangelung von Besserem schlangen sie manchmal sogar Hunde und Katzen hinunter, doch sobald die Gelegenheit sich bot, labten sie sich begierig an Menschenfleisch. Sie schienen übrigens eine ganz besondere Vorliebe für Kinder und Frauen zu haben, deren zarteres Fleisch ihrem Hunger zu gefallen wusste. Und ihr Hunger war wirklich ungeheuerlich, er wetteiferte mit der Kälte, dem Elend oder dem Krieg, dessen letzter Widerhall und dreistester Ausdruck er zu dieser Zeit zu sein schien.

Sylvie Germain, aus: „Das Buch der Nächte“

Sylvie Germain••• Im Urlaub habe ich einen der besten Romane gelesen, der mir je untergekommen ist: „Das Buch der Nächte“ der Französin Sylvie Germain. Auf 300 Seiten erzählt Sylvie Germain die europäische Version von „Hundert Jahre Einsamkeit“. Es ist die Geschichte von 100 barbarischen Jahren (1850-1950), die Geschichte dreier grosser Kriege, die Geschichte von fünf Generationen der Familie Peniél, denen je ein Kapitel dieses Romans gewidmet ist. Germain nennt die Kapitel Nächte (Wasser, Erde, Rosen, Blut, Asche). Und diese Nächte sind Sinnbild der Einsamkeit und Isolation der Peniéls in einer fremden, feindseligen Welt, ausgesetzt in einem ganz unausweichlich sich entfaltenden Plot grausamer Zerstörung.


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