Archiv der Kategorie 'Poetik'

Mitfühlende Menschlichkeit

Dienstag, den 16. Juni 2009

Jean-Marie Gustave Le Clézio (2008)
Jean-Marie Gustave Le Clézio (2008)

Literatur im 21. Jahrhundert ist der einzige Ort, das Andere zu verstehen, denn Literatur meint mitfühlende Menschlichkeit. Ich habe hier nicht die christliche Botschaft im Sinn. Ich meine die Fähigkeit, andere zu verstehen, und das Bewusstsein, mit ihnen verbunden zu sein. Um mitfühlen zu können jedoch, sollte man in der Lage sein, die Condition humaine zu begreifen, die Perspektive einer anderen Kultur zu verstehen, die Bedeutungslosigkeit von »Fremdheit« zu sehen.

Jean-Marie Gustave Le Clézio
im Interview mit Michael Skafidas
vom »Global Viewpoint« auf welt.de

••• Allein folgender Satz lässt schon aufhorchen: »Als Schriftsteller muss man bescheiden sein.« Das hört man auch nicht jeden Autor sagen.

Ich persönlich mag die Zukunft nicht

Montag, den 15. Juni 2009

Humberto Maturana
Humberto Maturana

Ich persönlich mag die Zukunft nicht, da ich sie nicht kenne. In Chile kam einmal eine Zigeunerin auf mich zu und fragte: »Darf ich Ihnen aus der Hand lesen? Ich kann weissagen.« Ich sagte: »Gnädige Frau, bitte lassen Sie meine Zukunft Zukunft bleiben, denn ich möchte in der Gegenwart möglichst wenig darüber wisssen.« Daraufhin lobte sie mich als einen klugen Menschen.

Humberto Maturana

••• Im April war ich für ein Wochenende in Berlin. Beim Sonntagsbrunch traf sich meine Abiturklasse – zum ersten Mal nach 20 Jahren. Wiedergetroffen habe ich dort auch einen Schulfreund, mit dem ich damals schon oft und angeregt diskutiert habe – über »Gott und die Welt«, wie man so sagt. Wir waren umgehend wieder im besten Gespräch, als hätten wir den Austausch nur kurz unterbrochen.

Einige Tage vor dem Urlaub erreichte mich ein Päckchen von ihm mit Büchern von Humberto Maturana. Das war mit Abstand die interessanteste Urlaubslektüre, die ich je mit auf Reisen genommen habe. Dabei ist Maturana nicht etwa Dichter, sondern – Biologe.

Worum drehen sich Maturanas Thesen? Die Welt, in der wir leben, könnte man subsumieren, ist nicht außerhalb, nicht unabhängig von uns; wir erschaffen sie gemeinsam im Prozess des Erkennens und im Verwandeln der Erkenntnis in Sprache. Realität finden wir nicht »draußen«; vielmehr entsteht sie im Auge des Betrachters. Bewußtsein schließlich findet nicht im Gehirn statt (das keineswegs, wie gern angenommen, mit verlässlichen sinnlichen Repräsentationen einer »objektiven, realen« Außenwelt operiert), sondern in den Beziehungen der Menschen untereinander.

Maturanas Ideen von der Autopoiese aller »lebenden Systeme« mit all ihren Implikationen werden mich noch eine Weile beschäftigen.

In Oxford ist was los

Dienstag, den 26. Mai 2009

••• Das 300 Jahre alte und höchst angesehene Amt des Oxford professor of poetry war jüngst neu zu besetzen. Und es wurde mit härtesten Bandagen gekämpft. Zunächst wurde der Favorit Derek Walcott aus dem Rennen geschlagen – und zwar mit einer anonym initiierten Kampagne, die an unerfreuliche, sexuell gefärbte Ereignisse seines Vorlebens erinnerte. Walcott verzichtete auf die Kandidatur, und die Mitbewerberin Ruth Padel wurde auf den ehrenwerten Posten gewählt. Nun trat auch sie nach nur wenigen Tagen zurück, denn es wurde ruchbar, dass sie höhstselbst die Informationen gestreut hatte

Wat ne schmutzige Nummer! Aber da ist was los in Oxford, das muss man schon sagen.

The writer’s guide to making a digital living

Samstag, den 9. Mai 2009

The writer’s guide to making a digital living

••• Australien ist ein Paradies für Autoren oder wird es zumindest bald sein. So jedenfalls behauptet es obiges Video. Das Geheimnis dieses unvermeidlichen Erfolgs der Autoren »down under« ist der »Writer’s guide to making a digital living«, der glücklicherweise nicht nur als Buch, sondern auch online verfügbar ist. Ein Klick in die interaktive Karte des Literatur-Universums zeigt auf, wie vielfältig für einen heutigen Autor die Möglichkeiten der digital-literarischen Ausdrucksmöglichkeiten sind. Ich war erstaunt.

Nun zähle ich wohl nicht zur Zielgruppe dieser Publikation, denn ich muss einräumen, dass ich ein Verfechter des altmodischen Buches als Literaturbehältnis bin. Ich bin durchaus für Experimente zu haben, wie »Die Leinwand« beweisen wird, aber es sind Experimente mit dem Medium Buch. Weder treibt es mich, meinen Lebensunterhalt mit Literatur zu verdienen (beim Gedanke, schreiben zu müssen, um die Miete zahlen zu können, wird mir schlagartig unwohl), noch treibt es mich, all jene in diesem Wegweiser vorgestellten Varianten der Online-Publikation zu erproben. Andere Autoren mögen das aber ganz anders sehen, und mancher Versuch in diesen neueren Medien ist sicher auch formal interessant, also im Hinblick auf die Frage, welche Rückwirkung die Form auf den Inhalt haben mag.

Generation iPod

Sonntag, den 29. März 2009

••• Endlich bringt jemand auf den Punkt, was mir seit Monaten im Kopf umhergeistert: Wie lange wird es noch Romane geben?

if:book ist ein Blog-Projekt des »Institute for the Future of the Book«. Sebastian Mary schreibt dort vor einigen Tagen über eBooks. Dabei geht es ihm nicht um die Frage, ob eBooks nun gut seien oder nicht. Es gibt sie, und sie werden ein regulärer Bestandteil der Literaturlandschaft werden. Aber Mary zieht einen Vergleich zwischen Literatur und Musikindustrie und illustriert seinen Gedanken am Beispiel des iPod: Die Frage sei nicht, ob und wie komfortabel man auf eBook-Readern längere Prosa lesen kann; die Frage sei vielmehr, ob die längere Prosa noch eine Zukunft hat.

It makes economic sense to sell LPs or CDs at a runtime of 60-odd minutes. It makes economic sense to sell books of around 80,000 words. But music for iPods can be sold song by song. So, extrapolating from this to an iPod for reading, what is the written equivalent of a single song? In a word (or 300), belles lettres.


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