Archiv der Kategorie 'Poetik'

Der Stachel der Romantik

Donnerstag, den 13. August 2009

Franz Fühmann
Franz Fühmann (1922-1984)

••• Beim Umräumen der Unordnung in meinem Arbeitszimmer fiel mir vor ein paar Tagen eine noch ungelesene »Sinn und Form« in die Hand, die erste Ausgabe dieses Jahres vom Januar/Februar. Ein Glücksfund. Das Jahr begann nämlich – von mir unbemerkt – mit einem Essay von Gunnar Decker über die kurze, aber Aufsehen erregende Rückbesinnung einiger DDR-Autoren Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre auf – die Romantik. Ich erinnerte mich spontan an Hermlins »Abendlicht« und Christa Wolfs »Kein Ort. Nirgends«. Und tatsächlich, bestätigt mir Decker, gehörten jene zu den konterrevolutionären, romantischen Verschwörern.

Einer unwürdigen Beschäftigung gingen diese Autoren nach, denn »Die Kunstrichtung der Romantik bestand aus zehntausend Autoren, deren Namen wir alle vergessen haben. Keiner von ihnen vermochte zu schreiben.« So Peter Hacks.

Überhaupt, so Hacks, seien aIle Romantiker Verschwörer […] : »Das erste Auftauchen der Romantik in einem Land ist wie Salpeter in einem Haus, Läuse auf einem Kind oder der Mantel von Heiner Müller am Garderobenhaken eines Vorzimmers. Ein von der Romantik befallenes Land sollte die Möglichkeit seines Untergangs in Betracht ziehen.«

Wie weitsichtig Hacks da in seiner ungestümen Parteilichkeit war!


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Wahr ist…

Montag, den 27. Juli 2009

Wahr ist nicht, was A gesagt hat; Wahr ist, was B verstanden hat.

••• Neben Maturana hatte ich im Urlaub auch ein – ebenfalls geschenktes – Buch von Paul Watzlawick dabei: »Anleitung zum Unglücklichsein«. Dieses Büchlein kommt harmlos daher und lässt sich unbedarft als Schnurre lesen, die uns lächelnd den täglichen Irrsinn unseres Verhaltens vor Augen führt. Nicht ohne Grund aber finden sich im Anhang der Maturana-Bücher Hinweise auf die Watzlawick-Publikationen. Schließlich geht es beiden wesentlich um Kommunikation.

Ist Watzlawick eigentlich schon einmal poetologisch hinterfragt worden? Für die Literatur sind seine Axiome von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Man nehme nur einmal dieses:

Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt, wobei Letzterer den Ersteren bestimmt.


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Die Sprache der Schöpfung (III)

Dienstag, den 14. Juli 2009

Markus A. Hediger (im Stande der Unschuld?) © Markus A. Hediger

Ein Gastbeitrag von Markus A. Hediger

••• Als ich vor einem Jahr meine autobiographischen Fiktionen beendete, ahnte ich nicht, wie sehr sie mein Selbstbild und – als Folge daraus – mein Leben bestimmen würden. Ich hatte sie in einem rauschhaften Zustand geschrieben, der wochenlang anhielt und mich taumelnd durch eine plötzlich eingetretene oder gefundene Kongruenz zwischen persönlicher Geschichte und aktuell Erlebtem tanzen ließ. Sprache wurde zur Musik, die sich selbst sang. Als das Büchlein schließlich publiziert war, wollte ich weiterschreiten, weiterarbeiten an meiner Fiktion, aber es gelang mir nicht. Es war, als hielte mich die Welt zurück, als zwänge sie mich zum Stillstand.

Fiktion beschränkt sich nicht nur auf das Geschilderte. Teil einer Fiktion ist auch ihre Konstruktion, ist auch ihre Wortwahl, ihr Rhythmus. Fiktion zeichnet sich weniger durch das aus, was sie erzählt, sondern durch das Wie.


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Die Sprache der Schöpfung (II)

Dienstag, den 30. Juni 2009

Ein Gastbeitrag von Markus A. Hediger

In Genesis 1 geht der Schöpfer nach einem formvollendeten Plan vor, so penibel durchstrukturiert, dass sich seine Perfektion und – möchte man fast sagen – Symmetrie sogar in der Struktur seiner sprachlichen Überlieferung niederschlägt. Gott geht weniger wie ein Künstler, als vielmehr wie ein Ingenieur vor, der einem genauen Bauplan folgt.

  • Er beschließt, was er erschaffen will und sagt es an (»Und Gott sprach«)
  • Er setzt sein Vorhaben um (»Und Gott machte«, »schuf« etc.)
  • Er beurteilt sein Werk (»Und Gott sah, dass es gut war«)

Ein durchdachtes, vollkommenes Kunstwerk also, sorgfältig orchestriert sowohl in seiner Entstehung als auch in seiner Vollendung, in das Gott am sechsten Tag den Menschen da hineinsetzt. Es ist genauso geworden, wie er es sich vorgestellt hatte, als er die ersten Worte sprach und das Licht erschuf.

Und dennoch geht etwas schief. Irgendetwas funktioniert nicht so, wie es sollte. Weshalb sonst sollte der Schöpfer sich nur wenige Zeilen später veranlasst sehen, erneut seine Hände in die Erde zu senken und die Welt ein zweites Mal zu erschaffen?

Was war es, was eine »Überarbeitung« der Schöpfung notwendig machte?


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Phidias und Praxtiteles

Sonntag, den 21. Juni 2009

… im Rückblick auf eine jüngere Geschichte besinnen wir uns darauf, dass Skulpturen im antiken Griechenland erst relativ spät signiert wurden, während es zuvor keine Signaturen gab. Bis dahin dokumentierten die Bildhauer noch nicht: »Das ist mein Werk!« Als Phidias und Praxiteles später zu signieren begannen, setzten sie sich selbst in Szene: »Das habe ich geschaffen!« Etwas schaffen und das zu betonen sind zweierlei, wie unsere Kultur beweist, in der vor lauter Urhebern keine Werke mehr entstehen.

Humberto Maturana, aus: »Was ist Erkennen?«

Mitfühlende Menschlichkeit

Dienstag, den 16. Juni 2009

Jean-Marie Gustave Le Clézio (2008)
Jean-Marie Gustave Le Clézio (2008)

Literatur im 21. Jahrhundert ist der einzige Ort, das Andere zu verstehen, denn Literatur meint mitfühlende Menschlichkeit. Ich habe hier nicht die christliche Botschaft im Sinn. Ich meine die Fähigkeit, andere zu verstehen, und das Bewusstsein, mit ihnen verbunden zu sein. Um mitfühlen zu können jedoch, sollte man in der Lage sein, die Condition humaine zu begreifen, die Perspektive einer anderen Kultur zu verstehen, die Bedeutungslosigkeit von »Fremdheit« zu sehen.

Jean-Marie Gustave Le Clézio
im Interview mit Michael Skafidas
vom »Global Viewpoint« auf welt.de

••• Allein folgender Satz lässt schon aufhorchen: »Als Schriftsteller muss man bescheiden sein.« Das hört man auch nicht jeden Autor sagen.

Ich persönlich mag die Zukunft nicht

Montag, den 15. Juni 2009

Humberto Maturana
Humberto Maturana

Ich persönlich mag die Zukunft nicht, da ich sie nicht kenne. In Chile kam einmal eine Zigeunerin auf mich zu und fragte: »Darf ich Ihnen aus der Hand lesen? Ich kann weissagen.« Ich sagte: »Gnädige Frau, bitte lassen Sie meine Zukunft Zukunft bleiben, denn ich möchte in der Gegenwart möglichst wenig darüber wisssen.« Daraufhin lobte sie mich als einen klugen Menschen.

Humberto Maturana

••• Im April war ich für ein Wochenende in Berlin. Beim Sonntagsbrunch traf sich meine Abiturklasse – zum ersten Mal nach 20 Jahren. Wiedergetroffen habe ich dort auch einen Schulfreund, mit dem ich damals schon oft und angeregt diskutiert habe – über »Gott und die Welt«, wie man so sagt. Wir waren umgehend wieder im besten Gespräch, als hätten wir den Austausch nur kurz unterbrochen.

Einige Tage vor dem Urlaub erreichte mich ein Päckchen von ihm mit Büchern von Humberto Maturana. Das war mit Abstand die interessanteste Urlaubslektüre, die ich je mit auf Reisen genommen habe. Dabei ist Maturana nicht etwa Dichter, sondern – Biologe.

Worum drehen sich Maturanas Thesen? Die Welt, in der wir leben, könnte man subsumieren, ist nicht außerhalb, nicht unabhängig von uns; wir erschaffen sie gemeinsam im Prozess des Erkennens und im Verwandeln der Erkenntnis in Sprache. Realität finden wir nicht »draußen«; vielmehr entsteht sie im Auge des Betrachters. Bewußtsein schließlich findet nicht im Gehirn statt (das keineswegs, wie gern angenommen, mit verlässlichen sinnlichen Repräsentationen einer »objektiven, realen« Außenwelt operiert), sondern in den Beziehungen der Menschen untereinander.

Maturanas Ideen von der Autopoiese aller »lebenden Systeme« mit all ihren Implikationen werden mich noch eine Weile beschäftigen.