Archiv der Kategorie 'Poetik'

Anfangen und beenden

Montag, den 15. Oktober 2007

Italo Calvino

••• Im Winter 1985/86 sollte Italo Calvino in Harvard eine Poetik-Vorlesungsreihe bestreiten, die Charles Eliot Norton Poetry Lectures. Es kam nicht dazu, da Calvino im Februar 1985 starb. Fünf der geplanten sechs Vorlesungen hatte er jedoch bereits ausgearbeitet. Sie sind postum 1988 unter dem Titel „Lezione americane…“ erschienen. Hanser legte sie 1991 unter dem Titel „Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend“ in der deutschen Übersetzung von Burkhart Kroeber vor.

Einen frühen Entwurf für die erste Vorlesung, den Calvino verwarf, um stattdessen mit Betrachtungen über „Leichtigkeit“ in die Vorlesungsreihe einzusteigen, findet man in der aktuellen Ausgabe von Akzente (5/2007). Er trägt den Titel „Anfangen und beenden“.


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Antriebe

Freitag, den 12. Oktober 2007

Da ich die alten Lügen nicht wiederholen wollte, die Wahrheit aber unmöglich preisgeben konnte, blieb mir gar nichts anderes übrig als zu schweigen.

••• In den „Wörtern“ geht Sartre ja schonungslos der Frage nach, was ihn zum Schreiben antrieb. Schonungslos, weil seine Diagnose deutlich ausfällt: Schauspielerei aus Gefallsucht, als deren Grund er nicht einmal Eitelkeit ausmacht sondern schlicht: das Gelangweiltsein des bourgoisen Kindes.

Ich glaube, die Frage des Motors unserer literarischen (oder allgemein: künstlerischen Produktion) zu klären, verlangte uns einiges ab. Beim Nachdenken darüber streift man unweigerlich das Thema vom „Preis des Genies“, ganz unabhängig davon, dass noch lang nicht jeder Angetriebene die Stufe des unter Diktat Schreibenden erreicht.

Wäre es nicht Narzissmus oder ein vergleichbar neurotischer Motor, der uns zum Produzieren treibt, dann müssten wir uns doch fragen: Wozu das Ganze? Wen interessierts? Und wenn wir annehmen, es wäre Neurose: müsste man dann nicht – peinlich berührt – erst recht verstummen?

herzland

Samstag, den 11. August 2007

Paul Celan
Paul Celan

das gedicht kann, da es ja eine erscheinungsform der sprache und damit seinem wesen nach dialogisch ist, eine flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiß nicht immer hoffnungsstarken – glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an land gespült werden, an herzland vielleicht. gedichte sind auch in dieser weise unterwegs: sie halten auf etwas zu.

Paul Celan

[via: nirmana-cittany]

Kontrastreiches Verblassen

Montag, den 30. Juli 2007

dépérir à gris
we fade to grey
we fade to grey

Sven K. in: „daily ivy“

••• Diese Zeilen – gesummt von Sven K. nebenan bei „daily ivy“ – gehen mir heute nicht aus dem Kopf. „Wishing that life wouldn’t be so dull…“ Das war nie und ist nicht meine Sorge. Doch dieses Gefühl, ins Grau abzugleiten, Kontur zu verlieren und zu verblassen, dieses Gefühl ist mir sehr vertraut.

Der Sohn einer Freundin hat unsere Familie gemalt. Für mich hat er viel Schwarz verbraucht. „I’m fading to black…“, ging es mir durch den Kopf. Sollte das, fragte ich mich heute morgen in einem unbeobachteten Moment, ein Versuch sein, bloss nicht ins Grau hinüber zu siechen? Lebensentscheidungen nach dem Motto: Varianten des kontrastreichen Verblassens…

Sich so zu hinterfragen, ist irritierend.

PS: Irritation ist eine wichtige Zutat des Literarischen. Drum ab „Auf die Rolle“ mit „daily ivy“.

Realitätsverlust

Montag, den 23. Juli 2007

In jenen Jahren, so wissen wir, gelangt der Roman zu einer seither kaum mehr übertroffenen Meisterschaft, die Gegebenheiten des äußeren Lebens mit einer Genauigkeit abzubilden, die es uns ermöglicht, den Speiseplan einer Lübecker Kaufmannsfamilie ebenso nachzuvollziehen wie die genauen Umstände des Aufstiegs eines französischen Journalisten, die Urlaubsgewohnheiten einer Wiener Arztfamilie oder die Art und Weise, wie ein russischer Aristokrat Weihnachten feiert. Wir wissen, welche Vorbereitungen ein Ball in der britischen Provinz erfordert. Wir kennen aber auch nicht minder die Ängste eines Pragers Angestellten, die Inkonsequenzen einer Gesellschaft, die eine russische Dame am Ende unter die Eisenbahn bringen, und hören den Lügen dieser Epoche ebenso zu wie ihren Witzen, ihren Wahrheiten, ihren Traurigkeiten und ihrem Tod. Wir sind, mit einem Wort, mit dem alltäglichen Leben des Bürgers des 19. Jahrhunderts und des frühen 20. in hohem Maße vertraut.

••• Serviert Frau Modeste uns ein Roman-Quiz? (Können wir zusammentragen, auf welche Romane hier gezielt wurde?) Nein, Frau Modeste wagt sich vor in die Kritik des zeitgenössischen Prosa-Erzählens; und sie beklagt — den Mangel an realistischer Beschreibung des heutigen Alltags.

[…] spielt ein guter Teil der Gegenwartsliteratur in einer Welt, die es so nicht gibt. Die Einbettung in eine vollkommen künstliche oder schlicht nur angedeutete Umgebung enthebt den Autor der Notwendigkeit, eine realistische Darstellung der Welt zu liefern, wie sie aussieht, wie sie riecht und schmeckt, und wie diejenigen, die sich in ihr bewegen, denken, wie sie lieben, was sie ärgert, und wie sie sprechen. Das in der deutschen Kunstprosa der Gegenwart gesprochene Idiom ist vollkommen artifiziell.

Eine Welt, die es so nicht gibt? Wie glänzend Frau Modeste sich täuscht — nicht über die vemeintlich so nicht existierenden Welten in der nicht-naturalistischen, irgendwie-anders-realistischen Prosa, sondern darüber, dass die Schilderungen in all den Romanen, auf die sie oben anspielte, nichts zu tun haben mit irgendetwas wie Realität. Sie waren erfunden von ihren Autoren und ebenso glaubwürdig oder unglaubwürdig wie jede heutige Beschreibung von etwas in Form. Alle Autoren aller Zeiten haben schon immer vor allem eins: wahr-gelogen, dass sich die Balken bogen.