Archiv der Kategorie 'Poetik'

herzland

Samstag, den 11. August 2007

Paul Celan
Paul Celan

das gedicht kann, da es ja eine erscheinungsform der sprache und damit seinem wesen nach dialogisch ist, eine flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiß nicht immer hoffnungsstarken – glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an land gespült werden, an herzland vielleicht. gedichte sind auch in dieser weise unterwegs: sie halten auf etwas zu.

Paul Celan

[via: nirmana-cittany]

Kontrastreiches Verblassen

Montag, den 30. Juli 2007

dépérir à gris
we fade to grey
we fade to grey

Sven K. in: „daily ivy“

••• Diese Zeilen – gesummt von Sven K. nebenan bei „daily ivy“ – gehen mir heute nicht aus dem Kopf. „Wishing that life wouldn’t be so dull…“ Das war nie und ist nicht meine Sorge. Doch dieses Gefühl, ins Grau abzugleiten, Kontur zu verlieren und zu verblassen, dieses Gefühl ist mir sehr vertraut.

Der Sohn einer Freundin hat unsere Familie gemalt. Für mich hat er viel Schwarz verbraucht. „I’m fading to black…“, ging es mir durch den Kopf. Sollte das, fragte ich mich heute morgen in einem unbeobachteten Moment, ein Versuch sein, bloss nicht ins Grau hinüber zu siechen? Lebensentscheidungen nach dem Motto: Varianten des kontrastreichen Verblassens…

Sich so zu hinterfragen, ist irritierend.

PS: Irritation ist eine wichtige Zutat des Literarischen. Drum ab „Auf die Rolle“ mit „daily ivy“.

Realitätsverlust

Montag, den 23. Juli 2007

In jenen Jahren, so wissen wir, gelangt der Roman zu einer seither kaum mehr übertroffenen Meisterschaft, die Gegebenheiten des äußeren Lebens mit einer Genauigkeit abzubilden, die es uns ermöglicht, den Speiseplan einer Lübecker Kaufmannsfamilie ebenso nachzuvollziehen wie die genauen Umstände des Aufstiegs eines französischen Journalisten, die Urlaubsgewohnheiten einer Wiener Arztfamilie oder die Art und Weise, wie ein russischer Aristokrat Weihnachten feiert. Wir wissen, welche Vorbereitungen ein Ball in der britischen Provinz erfordert. Wir kennen aber auch nicht minder die Ängste eines Pragers Angestellten, die Inkonsequenzen einer Gesellschaft, die eine russische Dame am Ende unter die Eisenbahn bringen, und hören den Lügen dieser Epoche ebenso zu wie ihren Witzen, ihren Wahrheiten, ihren Traurigkeiten und ihrem Tod. Wir sind, mit einem Wort, mit dem alltäglichen Leben des Bürgers des 19. Jahrhunderts und des frühen 20. in hohem Maße vertraut.

••• Serviert Frau Modeste uns ein Roman-Quiz? (Können wir zusammentragen, auf welche Romane hier gezielt wurde?) Nein, Frau Modeste wagt sich vor in die Kritik des zeitgenössischen Prosa-Erzählens; und sie beklagt — den Mangel an realistischer Beschreibung des heutigen Alltags.

[…] spielt ein guter Teil der Gegenwartsliteratur in einer Welt, die es so nicht gibt. Die Einbettung in eine vollkommen künstliche oder schlicht nur angedeutete Umgebung enthebt den Autor der Notwendigkeit, eine realistische Darstellung der Welt zu liefern, wie sie aussieht, wie sie riecht und schmeckt, und wie diejenigen, die sich in ihr bewegen, denken, wie sie lieben, was sie ärgert, und wie sie sprechen. Das in der deutschen Kunstprosa der Gegenwart gesprochene Idiom ist vollkommen artifiziell.

Eine Welt, die es so nicht gibt? Wie glänzend Frau Modeste sich täuscht — nicht über die vemeintlich so nicht existierenden Welten in der nicht-naturalistischen, irgendwie-anders-realistischen Prosa, sondern darüber, dass die Schilderungen in all den Romanen, auf die sie oben anspielte, nichts zu tun haben mit irgendetwas wie Realität. Sie waren erfunden von ihren Autoren und ebenso glaubwürdig oder unglaubwürdig wie jede heutige Beschreibung von etwas in Form. Alle Autoren aller Zeiten haben schon immer vor allem eins: wahr-gelogen, dass sich die Balken bogen.

Beängstigender Realismus

Freitag, den 1. Juni 2007

Ivan Bunin••• Als ich zum erstenmal Katajews „Gras des Vergessens“ las, konnte ich von Ivan Bunin kein einziges Gedicht, keine Erzählung auftreiben. Online-Portale für Bibliophile gab es damals noch nicht. Solcherlei musste damals in Antiquariaten erstöbert werden. Das war mühsam. Bei manchen Autoren war es auch nicht vielversprechend. Bunin, obgleich Nobelpreisträger, zählte zu den hoffnungslosen Beschaffungsfällen – jedenfalls dort, wo ich lebte: auf der Sibirien zugewandten Seite des Eisernen Vorhangs. Jetzt habe ich endlich die Lektüre nachgeholt. Gedichte von ihm habe ich immer noch nicht ins Haus bekommen; dafür aber einen Band mit Erzählungen.

Ich kann nur allen, die hier mitlesen und selbst schreiben, dazu raten, sich Prosa von Bunin zu beschaffen. Sein Realismus ist beängstigend. Da ist nichts zu viel, alles am richtigen Ort und alles und jedes mit wenigen Strichen wie fotografiert.

Aber ja, das ist natürlich mega-out, ruft’s da aus dem postmodern sozialisierten Publikum. Alles Unfug!, dachte ich mir heute. Was gäbe das für Geschichten ab, meinetwegen Romane, die sich all jenen magischen, sogar mystischen Sujets zuwenden, bizarrste Visionen schildern und Gegen- und Parallelwelten – jedoch in der Klarheit, Unverkünsteltheit und Plastizität des Buninschen Realismus…

Nicht auszudenken.

Für sachdienliche Hinweise auf brauchbare Übertragungen von Bunin-Gedichten ins Deutsche wäre ich sehr dankbar

Verlorene Herkünfte

Donnerstag, den 31. Mai 2007

Ein Gastbeitrag von Alban Nikolai Herbst
in Erwiderung auf „Gereimtes Versmass“

••• Neue Formen auszuprobieren, sie zu füllen und schließlich (vorübergehend, weil so etwas immer weiter führt) zu beherrschen, ist von Anfang an ein nachdrückliches Element auch meiner Romane gewesen, wurde allerdings erst in letzter Zeit, und zwar von Literaturwissenschaftlern, nicht von der Kritik und kaum von Lesern bemerkt – was wohl auch daran liegt, daß ein plausibler Kanon, wie ein Roman auszusehen habe, nicht exitiert, so daß sich ein solcher Kanon auch nicht durchbrechen läßt, nicht eigentlich transzendieren läßt. Daran aber wäre überhaupt nur die neue Form merklich. Man kann sich allenfalls, was ich seit einiger Zeit tue, diesen Kanon selber schreiben. Nur zeitigt das bei Lesern wenig erkenntnistheoretische / ästhetische Erkenntnis, da meist die Zusammenhänge, aus denen argumentiert wird, gar nicht begriffen oder verlorengegangen sind.


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Sprache und Gleichzeitigkeit

Donnerstag, den 17. Mai 2007

Das Kernproblem des Schriftstellers ist die Sprache. Sie ist ihrem Wesen nach sukzessiv, sie schildert, wie die aristotelische Zeit, ein Vorher und ein Nachher und vermittelt damit dem Leser einen vollkommen falschen Eindruck, da jedes Ereignis in Wirklichkeit der Simultanität folgt. Erst, wenn es einem Autor gelänge, in einem einzigen Satz, in einem einzigen Wort, alles zugleich zum Ausdruck zu bringen, hätte er das Problem der Sprache bewältigt.

Michael Perkampus

••• Ich bin polyglott. Etwa 14 Sprachen schreibe und lese ich fliessend. [Angeber!] Nur nützt mir das leider nichts, was die Dichtung betrifft. Denn fast alle diese Sprachen bestehen nur aus Befehlen, mit denen man Maschinen lebendig machen kann. Aber dichten?

Nun finde ich Programmiersprachen mit ihren schönen Strukturen, runden und geschweiften Klammern, den Zeichenhäufungen zwischen kategorischen Anweisungen ungemein poetisch. Ich fürchte aber, dass kaum jemand dieses Empfinden mit mir teilt. Es ist doch eine recht spezielle Vorliebe.

Die oben zitierten Sätze im Sinn, fällt mir an diesen (literarisch verkannten) Sprachen zweierlei auf. Erstens: Programmiersprachen kennen ausschliesslich eine Zeitform – die Gegenwart. Dennoch werden Abläufe gestaltet.

Und zweitens: Gleichzeitigkeit ist in der Programmierung eine Illusion. In Wirklichkeit erfolgt die Ausführung von Programmcode immer sequentiell. Die zur Verfügung stehende Prozessorzeit wird vom Betriebssystem in Zeitscheiben geteilt, die den vemeintlich parallel ausgeführten Programmen zugeteilt werden. Ist die zugeteilte Zeit verbraucht, wird das Programm unterbrochen; und das Code-Fragment, dem die nächste Zeitscheibe zusteht, kommt zur Ausführung. Die Illusion der gleichzeitigen Ausführung entsteht lediglich dadurch, das der Zyklus von Unterbrechung und Fortsetzung der Ausführung hinreichend kurz ist, um uns darüber zu täuschen, was tatsächlich geschieht.


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Nachlese zu Gottfried Benn

Dienstag, den 15. Mai 2007

••• In den Kommentaren zum Benn-Beitrag von heute habe ich zwei Gedanken aus der Vorlesung aus dem Gedächtnis wiedergegeben. Die Originalzitate wollte ich nicht schuldig bleiben:

[…] die Öffentlichkeit lebt nämlich vielfach der Meinung: da ist eine Heidelandschaft oder ein Sonnenuntergang, und da steht ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholische Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht. Nein, so entsteht kein Gedicht. Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht. Wenn Sie vom Gereimten das Stimmungsmäßige abziehen, was dann übrigbleibt, das ist dann vielleicht ein Gedicht.

Und zum Beweis der Fragwürdigkeit des Paraphrasierens aus dem löchrigen Gedächtnis:

[…] – und nun kommt das Rätselhafte: das Gedicht ist schon fertig, ehe es begonnen hat, er [Anm.: der Dichter] weiß nur seinen Text noch nicht. Das Gedicht kann gar nicht anders lauten, als es eben lautet, wenn es fertig ist. Sie wissen ganz genau, wann es fertig ist, das kann natürlich lange dauern, wochenlang, jahrelang, aber bevor es nicht fertig ist, geben Sie es nicht aus der Hand.

Aus: Gottfried Benn, „Probleme der Lyrik“ (1951)