Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Radwechsel

Mittwoch, den 23. Dezember 2009

Off-Road in der Sahara, Foto: Rüdiger Unger
Off-Road in der Sahara – Foto: © Rüdiger Unger

Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
mit Ungeduld?

Bertolt Brecht (1898-1956)

••• Gestern vorm Einschlafen fiel mir Brechts »Radwechsel« ein. Man weiß ja oft nicht, auf welchen Wegen sich die Erinnerung zu solchen Versen hinassoziiert. Ungeduldig bin ich immer, soviel steht fest. Aber »nicht gern, wo ich herkomme«, »nicht gern, wo ich hinfahre«? Das trifft heute sicher nicht zu.

Wieder einmal entdecke ich an einem Gedicht, das ich schon Jahrzehnte kenne, plötzlich etwas Neues.


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Arbeit macht frei

Montag, den 21. Dezember 2009

Arbeit macht frei - Losung über dem Eingangstor des KZ Auschwitz
Arbeit macht frei – Losung über dem Eingangstor des KZ Auschwitz

••• Nicht nur über dem Eingangstor des KZ Auschwitz, sondern auch auf denen der KZ in Sachsenhausen, Groß-Rosen und Theresienstadt prangte die höhnische Losung »Arbeit macht frei«. Man weiß nicht recht, ob man es für eine Posse oder eine politisch motivierte Tat halten soll, was in den letzten Tagen aus Polen berichtet wurde. Eben jenes Schild über dem Auschwitz-Tor wurde entwendet. Gestern fand man es wieder, zerstört. Fünf Verdächtige wurden unterdessen verhaftet. Keiner von ihnen sei Neonazi oder Sympathisant der rechten Szene. Es sehe eher danach aus, als hätten die Verdächtigen das Diebesgut zu Geld machen wollen. Reliquienhandel gewissermaßen.


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Bei den jungen Wilden

Mittwoch, den 2. Dezember 2009

Verbrecher Verlag••• Mit tatkräftiger Unterstützung durch meine Agentin habe ich für die Gedichte von Charlotte Grasnick einen Kooperationspartner gefunden. Ich werde den Band nicht als Paperback in der edition neue moderne herausbringen. Stattdessen soll er, herausgegeben von mir, im kommenden Frühjahr als Hardcover im Verbrecher Verlag erscheinen.

Meine Agentin hatte hier wieder einmal die richtige Nase: Die Verbrecherei und Lyrik? Aber ja! Das literarische Programm dieses Verlages kann sich wirklich sehen lassen, und auf das Frühjahrsprogramm darf man sehr gespannt sein.


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Kaspar Hauser Lied

Donnerstag, den 5. November 2009

Kaspar-Hauser-Denkmal Ansbach
Kaspar-Hauser-Denkmal Ansbach – Foto: Michael Zaschka

Für Bessie Loos

Er wahrlich liebte die Sonne, die purpurn den Hügel hinabstieg,
Die Wege des Walds, den singenden Schwarzvogel
Und die Freude des Grüns.

Ernsthaft war sein Wohnen im Schatten des Baums
Und rein sein Antlitz.
Gott sprach eine sanfte Flamme zu seinem Herzen:
O Mensch!

Stille fand sein Schritt die Stadt am Abend;
Die dunkle Klage seines Munds:
Ich will ein Reiter werden.

Ihm aber folgte Busch und Tier,
Haus und Dämmergarten weißer Menschen
Und sein Mörder suchte nach ihm.

Frühling und Sommer und schön der Herbst
Des Gerechten, sein leiser Schritt
An den dunklen Zimmern Träumender hin.
Nachts blieb er mit seinem Stern allein;

Sah, daß Schnee fiel in kahles Gezweig
Und im dämmernden Hausflur den Schatten des Mörders.

Silbern sank des Ungebornen Haupt hin.

Georg Trakl (1887-1914)

••• Die Monate Januar bis März 1992 habe ich im norddeutschen Wewelsfleth in einem alten Herrenhaus verbracht, das Günter Grass 1985 der Akademie der Künste (Berlin) übereignet hat und das seitdem im Quartalstakt je drei Aufenthaltsstipendiaten der Akademie zur Verfügung steht. Das Haus hat drei Etagen. Ich wohnte in der zweiten, zur Straße hinaus. Mein Arbeitszimmer lag im Erdgeschoss neben der Wohnküche. Ich sah aus dem Fenster auf den Friedhof hinaus. Im ersten Stock lagen die Zimmer meines Freundes Oliver Bukowski, der zufällig gemeinsam mit mir das Stipendium erhalten hatte. Im zweiten Stock, unterm Dach, wo zu früheren Zeiten Grass gezeichnet und geschrieben hatte, wohnte ein Westberliner Autor, dessen Name mir leider entfallen ist. Ich erinnere mich aber noch, dass er damals an einer Erzählung schrieb, deren Hauptfigur Eigner hieß. Ich arbeitete am letzten Drittel des »Alphabet des Juda Liva«, und Bukowski versuchte eine glänzende Prosa, bekam es aber, wie mir schien, irgendwann mit der Angst zu tun und schwenkte auf die Dramatik zurück, sein angestammtes Gebiet. Ich glaube, er reiste damals nach den drei Monaten mit zwei fertigen neuen Stücken ab.


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Die Kinder der Toten gehen spielen

Samstag, den 24. Oktober 2009

Guillaume Apollinaire, la colombe poignardée et le jet d'eau.
Guillaume Apollinaire, la colombe poignardée et le jet d’eau.

Die Kinder der Toten gehen spielen
Auf dem Friedhof mit Marmor und Zypressen.
Die alten Frauen
Kommen hierhin um zu weinen.
Das ist der Tag der Toten und aller ihrer Seelen.
Die Kinder und die alten Frauen
Zünden Talglichter und Kerzen an
Auf jedem katholischen Grab.
Die Kopftücher der Alten
Die Wolken am Himmel
Sind wie Ziegenbärte
Die warme Luft lässt den Horizont des Friedhofs zittern
Wo frische Blumenbestecke heute jeden Stein schmücken
Die Luft zittert von Flammen und Gebeten.
Ah! dass es heute regnet
Die Tränen dieser Toten
Um die Flammen auszulöschen.
Dass doch diese Toten wiederkehren
Und ihr Totentanz
Um die Frauen zum Lachen zu bringen.
Dass sie alle von Ihren Bahren steigen:
Die Kluge Jungfrau und die Hure,
Die Bettler im Bierrausch verschieden,
Die Blinden blind wie das Schicksal
Und die hübschen jungen Gefallenen
Und die Kinder beim Beten gestorben,
Die Bürgermeister, die Schiffer
Und die Regierungsräte
Und die Zigeuner ohne Papiere.
Das Leben verfault ihnen im Bauch
Das Kreuz wächst zwischen ihren Füßen
Dass sie doch alle im Tanz wiederkehren.
Der Wind braust um die unbewegten Zypressen.
Die Kinder zünden die ausgelöschten Kerzen wieder an.
Und welke Blätter
Bedecken jetzt die Toten.
Der Wind vom Rhein heult zusammen mit dem Käuzchen.
Tote Kinder sprechen manchmal mit ihren Müttern
Und Tote möchten manchmal gerne zurückkehren.
– Oh! ich möchte nicht dass du herauskommst
Der Herbst ist voller abgeschlagener Hände
– Nein, nein das sind doch welke Blätter
– Das sind die Hände der lieben toten Frauen
Das sind deine Hände, deine abgeschlagenen Hände.
Die Flammen zittern auf dem Friedhof bis in die Nacht.
Wir haben heute so viel geweint
Mit diesen Toten, ihren Kindern und den alten Frauen,
Unter dem sonnenlosen Himmel
Auf dem Friedhof voller Flammen.
Im Wind sind wir dann von dort zurückgegangen.
Die Kastanien rollten unter unseren Füßen
Wie Herzen toter Frauen.
Die Stachelschalen der Kastanien
Waren wie das verwundete Herz der Muttergottes
Von der man nicht weiß ob ihre Haut
Die Farbe der Kastanien im Herbste hatte.
Mit sieben Schmerzen sind Schalen und Herzen gespickt.
Die Herzen der Frauen und der Männer,
Herzen mit Versen bespickt die sich im Faulen vereinen
O Herz der Toten.

Guillaume Apollinaire (1880-1918)
(entstanden 1901, veröffentlicht 1909 in »La Voile de Pourpre«)

••• Die Herzdame zeichnet wieder, was mich sehr freut. Letztens mühte sie sich eine ganze Nacht lang über einem aufwendigen Muster. Ganz abgesehen davon, dass mich die Blumen tatsächlich ablenkten von der devot Knieenden, fiel mir auch später nicht auf, dass die Dame nicht mit Linien gezeichnet ist sondern aus Worten eines Gedichtes. Das fiel mir ein, als ich die gezeichneten Gedichte Apollinaires sah.


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