Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Kaspar Hauser Lied

Donnerstag, den 5. November 2009

Kaspar-Hauser-Denkmal Ansbach
Kaspar-Hauser-Denkmal Ansbach – Foto: Michael Zaschka

Für Bessie Loos

Er wahrlich liebte die Sonne, die purpurn den Hügel hinabstieg,
Die Wege des Walds, den singenden Schwarzvogel
Und die Freude des Grüns.

Ernsthaft war sein Wohnen im Schatten des Baums
Und rein sein Antlitz.
Gott sprach eine sanfte Flamme zu seinem Herzen:
O Mensch!

Stille fand sein Schritt die Stadt am Abend;
Die dunkle Klage seines Munds:
Ich will ein Reiter werden.

Ihm aber folgte Busch und Tier,
Haus und Dämmergarten weißer Menschen
Und sein Mörder suchte nach ihm.

Frühling und Sommer und schön der Herbst
Des Gerechten, sein leiser Schritt
An den dunklen Zimmern Träumender hin.
Nachts blieb er mit seinem Stern allein;

Sah, daß Schnee fiel in kahles Gezweig
Und im dämmernden Hausflur den Schatten des Mörders.

Silbern sank des Ungebornen Haupt hin.

Georg Trakl (1887-1914)

••• Die Monate Januar bis März 1992 habe ich im norddeutschen Wewelsfleth in einem alten Herrenhaus verbracht, das Günter Grass 1985 der Akademie der Künste (Berlin) übereignet hat und das seitdem im Quartalstakt je drei Aufenthaltsstipendiaten der Akademie zur Verfügung steht. Das Haus hat drei Etagen. Ich wohnte in der zweiten, zur Straße hinaus. Mein Arbeitszimmer lag im Erdgeschoss neben der Wohnküche. Ich sah aus dem Fenster auf den Friedhof hinaus. Im ersten Stock lagen die Zimmer meines Freundes Oliver Bukowski, der zufällig gemeinsam mit mir das Stipendium erhalten hatte. Im zweiten Stock, unterm Dach, wo zu früheren Zeiten Grass gezeichnet und geschrieben hatte, wohnte ein Westberliner Autor, dessen Name mir leider entfallen ist. Ich erinnere mich aber noch, dass er damals an einer Erzählung schrieb, deren Hauptfigur Eigner hieß. Ich arbeitete am letzten Drittel des »Alphabet des Juda Liva«, und Bukowski versuchte eine glänzende Prosa, bekam es aber, wie mir schien, irgendwann mit der Angst zu tun und schwenkte auf die Dramatik zurück, sein angestammtes Gebiet. Ich glaube, er reiste damals nach den drei Monaten mit zwei fertigen neuen Stücken ab.


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Die Kinder der Toten gehen spielen

Samstag, den 24. Oktober 2009

Guillaume Apollinaire, la colombe poignardée et le jet d'eau.
Guillaume Apollinaire, la colombe poignardée et le jet d’eau.

Die Kinder der Toten gehen spielen
Auf dem Friedhof mit Marmor und Zypressen.
Die alten Frauen
Kommen hierhin um zu weinen.
Das ist der Tag der Toten und aller ihrer Seelen.
Die Kinder und die alten Frauen
Zünden Talglichter und Kerzen an
Auf jedem katholischen Grab.
Die Kopftücher der Alten
Die Wolken am Himmel
Sind wie Ziegenbärte
Die warme Luft lässt den Horizont des Friedhofs zittern
Wo frische Blumenbestecke heute jeden Stein schmücken
Die Luft zittert von Flammen und Gebeten.
Ah! dass es heute regnet
Die Tränen dieser Toten
Um die Flammen auszulöschen.
Dass doch diese Toten wiederkehren
Und ihr Totentanz
Um die Frauen zum Lachen zu bringen.
Dass sie alle von Ihren Bahren steigen:
Die Kluge Jungfrau und die Hure,
Die Bettler im Bierrausch verschieden,
Die Blinden blind wie das Schicksal
Und die hübschen jungen Gefallenen
Und die Kinder beim Beten gestorben,
Die Bürgermeister, die Schiffer
Und die Regierungsräte
Und die Zigeuner ohne Papiere.
Das Leben verfault ihnen im Bauch
Das Kreuz wächst zwischen ihren Füßen
Dass sie doch alle im Tanz wiederkehren.
Der Wind braust um die unbewegten Zypressen.
Die Kinder zünden die ausgelöschten Kerzen wieder an.
Und welke Blätter
Bedecken jetzt die Toten.
Der Wind vom Rhein heult zusammen mit dem Käuzchen.
Tote Kinder sprechen manchmal mit ihren Müttern
Und Tote möchten manchmal gerne zurückkehren.
– Oh! ich möchte nicht dass du herauskommst
Der Herbst ist voller abgeschlagener Hände
– Nein, nein das sind doch welke Blätter
– Das sind die Hände der lieben toten Frauen
Das sind deine Hände, deine abgeschlagenen Hände.
Die Flammen zittern auf dem Friedhof bis in die Nacht.
Wir haben heute so viel geweint
Mit diesen Toten, ihren Kindern und den alten Frauen,
Unter dem sonnenlosen Himmel
Auf dem Friedhof voller Flammen.
Im Wind sind wir dann von dort zurückgegangen.
Die Kastanien rollten unter unseren Füßen
Wie Herzen toter Frauen.
Die Stachelschalen der Kastanien
Waren wie das verwundete Herz der Muttergottes
Von der man nicht weiß ob ihre Haut
Die Farbe der Kastanien im Herbste hatte.
Mit sieben Schmerzen sind Schalen und Herzen gespickt.
Die Herzen der Frauen und der Männer,
Herzen mit Versen bespickt die sich im Faulen vereinen
O Herz der Toten.

Guillaume Apollinaire (1880-1918)
(entstanden 1901, veröffentlicht 1909 in »La Voile de Pourpre«)

••• Die Herzdame zeichnet wieder, was mich sehr freut. Letztens mühte sie sich eine ganze Nacht lang über einem aufwendigen Muster. Ganz abgesehen davon, dass mich die Blumen tatsächlich ablenkten von der devot Knieenden, fiel mir auch später nicht auf, dass die Dame nicht mit Linien gezeichnet ist sondern aus Worten eines Gedichtes. Das fiel mir ein, als ich die gezeichneten Gedichte Apollinaires sah.


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Unterm Pont Mirabeau

Donnerstag, den 22. Oktober 2009

Pont Mirabeau, Paris
Pont Mirabeau, Paris

Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine.
Was Liebe hieß,
muß ich es in ihr wiedersehn?
Muß immer der Schmerz vor der Freude stehn?

Nacht komm herbei, Stunde schlag!
Ich bleibe, fort geht Tag um Tag.

Die Hände, die Augen geben wir hin.
Brücken die Arme,
darunter unstillbar ziehn
die Blicke, ein mattes Fluten und Fliehn.

Nacht komm herbei, Stunde schlag!
Ich bleibe, fort geht Tag um Tag.

Wie der Strom fließt die Liebe, so
geht die Liebe fort.
Wie lang währt das Leben! Oh,
wie brennt die Hoffnung so lichterloh!

Nacht komm herbei, Stunde schlag!
Ich bleibe, fort geht Tag um Tag.

Wie die Tage fort, wie die Wochen gehn!
Nicht vergangene Zeit
noch Lieb werd ich wiedersehn!

Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine.
Nacht komm herbei, Stunde schlag!
Ich bleibe, fort geht Tag um Tag.

Guillaume Apollinaire (1880-1918)
Nachdichtung: Hans Magnus Enzensberger

••• Eben spielte die Herzdame eine ungeheuer dramatische Rezitation ab. Ich fühlte mich erinnert an Neruda. Aber es war Französisch: Guillaume Apollinaire.

Diese Hörprobe sei aber noch aufgeschoben. Stattdessen gönnen wir uns mal ein Chanson…


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Kristin Dimitrova im O-Ton

Montag, den 12. Oktober 2009

••• Als ich hier im letzten August von der akzente-Auswahl bulgarischer Lyrik berichtete und ein Gedicht von Kristin Dimitrova präsentierte, fragte ich sie, ob sie vielleicht einen O-Ton für den Podcast aufnehmen würde. Heute nun hat sie tatsächlich eine Aufnahme geschickt. Per Youtube-Video können wir nun »Die Grenze« auch im Original hören. Ich habe mich riesig gefreut. Danke Kristin!

Einen Einfall wagen

Montag, den 5. Oktober 2009

Charlotte Grasnick
Charlotte Grasnick (Mitte der 1980er Jahre)

••• Vor mir liegt das Manuskript für den ersten Gedichtband, den ich als Verleger (oder zumindest als Herausgeber) betreue. »so nackt an dich gewendet« soll er heißen und die etwa 150 gesammelten Gedichte von Charlotte Grasnick enthalten. Da die Originalausgaben vergriffen sind, waren die Rechte erhältlich. Wie ich es von Charlotte kannte, existierten keine elektronischen Versionen. Ich musste alles aus den gedruckten Büchern abtippen.

Wie ich erfahren habe, wurden Lyrikbände in der DDR in Auflagen gedruckt und offenbar auch verkauft, die hier nicht einmal überdurchschnittlich gut laufende Romane erreichen: mehrere Tausend. Dieser Gedichtband, der Charlotte Grasnicks lyrisches Werk wieder und dauerhaft zugänglich machen soll, wird wohl eher eine Liebhaberausgabe in deutlich kleinerer Auflage werden. Illustriert wird er sein mit Grafiken von Wilhelm Lachnit und Dieter Goltzsche. Ich hoffe, noch einen Part mit nachgelassenen Gedichten und solchen aus Anthologien hinzufügen zu können, die nicht in den erschienenen Gedichtbänden enthalten waren.


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fragwürdige rückkehr (altes kesselhaus)

Montag, den 7. September 2009

Altes Kesselhaus (Ravensburg)
Altes Kesselhaus (Ravensburg

als wär seither noch keine zeit vergangen
faulen im salpeterweiß die selben wände
und in den winkeln wie seit ewigkeiten hangen
die vagen spinnen noch an ihrer fäden ende

die stühle sind mit staub bedeckt und zeigen
wie nah sie dem zerbrechen sind im golde
der sonnenflecken die durch blind zersprungne scheiben
hereingefallen sind im roten abendneigen

es ist als ob ich wiederkommen sollte
und etwas auch als wollt es mich vertreiben
es ist als ob noch keine zeit vergangen wäre

säumnis –
säumnis –als zögerte noch immer in den wänden
weil ich nicht wegbleib und nicht wiederkehre
ein feuriger wink von geisterhaften händen.

Wolfgang Hilbig, aus: „die versprengung“
© S. Fischer Verlag (2002)

••• Durch eine höchst unwillkommene Magengeschichte ins Bett geworfen, habe ich gestern per Laptop DVD geschaut: »Der Rote Kakadu«. Aus irgendeinem Grunde hatte ich eine seichte Komödie à la »Sonnenallee« vermutet. Das war es nun gar nicht.


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geflüster

Freitag, den 4. September 2009

Efeu
Efeu — © SilentSweetDeath@deviantart.com (2007-2009)

der rote duft der nacht —
die rosen verglühen im dunklen
efeu an trunknen bäumen
im schlafenden gras
such ich mein herz
wo ichs gelassen find ich
nichts feuchtes im dunkel.

ach
ich schmeck mir
so steinern heut

aber irgendwo flüstern
mit meinem herzen
frauen die ich nicht geküßt hab
von der süße der rosen und
wie dunkel der efeu ist.

Wolfgang Hilbig, aus: „abwesenheit“
© S. Fischer Verlag (1979)

••• Gestern war mir nach Hilbig. Ich habe endlich den dicken Suhrkamp-Band mit seinen Gesammelten Gedichten aus dem Regal genommen und mich, mit Zettellesezeichen bewaffnet, durch die Gedichte geschlängelt, angefangen bei den frühen aus »abwesenheit« bis hin zu den letzten und den nachgelassenen, die ich noch nicht kannte.

Wie schnell so einer kalt wird (also kanonisiert), wenn er stirbt, dachte ich mir angesichts dieses ersten Bandes seiner »Werkausgabe«. Der zweite Band mit den Erzählungen und Kurzprosa ist unterdessen übrigens auch erschienen. Muss ich noch kaufen.