Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Die Mangel

Montag, den 27. November 2006

Die inquisitoren sind unter uns. Sie leben in souterrains großer mietshäuser und ihre gegenwart verrät nur die aufschrift Hier Mangel.

Tische mit prallen bronzenen muskeln, mächtige walzen, die langsam aber genau zermalmen, das triebrad, das kein erbarmen kennt – warten auf uns.

Laken, die aus der mangel fallen, sind wie leere körper von hexen und ketzern.

Zbigniew Herbert, aus: „Inschrift“ (1967)
© 1979 Suhrkamp Verlag

••• Mangel war das bestimmende Gefühl meiner Kindheit und Jugend „im kleineren Deutschland“. Und ich meine das nicht materiell. Es herrschten ja keine koreanischen Verhältnisse. Es mag nicht viel gegeben haben, doch genug. Man war satt, man wohnte, fuhr sogar Auto, also Trabant. Aber emotional und intellektuell konnte ich unmöglich satt werden. Die Familie im Kleinen nahm sich da mit dem Land im Grossen nicht viel. Vielleicht lag es auch daran, dass mein Hunger immer enorm war. Das mag sein.


Den ganzen Beitrag lesen »

Der Turmsegler

Sonntag, den 26. November 2006

Turmsegler

Turmsegler mit den zu großen Flügeln, der da kreist und schreit seine Freude rings um das Haus. So ist das Herz.

Er lässt den Donner verdorren. Er sät in den heiteren Himmel. Streift er den Boden, schlitzt er sich auf.

Sein Widerpart ist die Schwalbe. Er verabscheut die häusliche. Was gilt das schon: Filigran des Turms?

Er rastet in dunkelster Höhlung. Niemand hat es so eng wie er.

Im Sommer der langen Helle streicht er davon in die Finsternis durch die Fensterläden der Mitternacht.

Kein Auge vermag ihn zu halten. Er schreit, das ist sein ganzes Dasein. Ein schmales Gewehr streckt ihn nieder. So ist das Herz.

René Char, aus: „Der erzählende Quell“ (1947)
in: „Einen Blitz bewohnen“
© 1995 Fischer Taschenbuch Verlag