Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Die Tage kommen über den Fluss

Mittwoch, den 10. Januar 2007

Charon on the Styx. Painting by Joachim Patenier, 1515-24. Museo del Prado, Madrid.

Die Tage kommen
über den Fluss. Charons Boot
schlingert zuweilen. Er legt an.
Lädt die Fracht ins modrige
Schilf. Kisten voll Zeit.
Dann wendet er Gesicht und Boot
lächelt und taucht
die Ruder ins Wasser.

Der Himmel
ein tanzendes Auge
aus Blau ist ihm
über. Die Hand am Blatt
wechselt er Ufer
um Ufer.

Zwei Männer steigen
durch klebrigen Schlamm.
Greifen die Fracht. Schütteln.
Wind aus dem Haar
als sei er ein Fremder. Laden
die Kisten auf einen
hölzernen Karren. Der bricht nicht
das Ufer vom Fluss

das Herz zu betäuben
die zuckenden Kehlen. Die Zungen sind
rot und das Blut an den aufgerissenen
Händen wechselt ins Schwarz.

Undine Materni, aus: „Die Tage kommen über den Fluss“
Literaturstiftung Tikkun, Warschau
© Undine Materni 2006


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Salome

Sonntag, den 7. Januar 2007

Salome - by lawrencew

Das Riesenrad dreht sich nicht, es ist Nacht.
Der Wind bewegt die Gondeln, in der obersten
Auf einer Holzbank die Tänzerin, die Schuhe
Zertanzt. Sie ist achtzehn mit allen Diplomen
Seit sie den Roten liebt den mit der weissen Haut
Er über die Welt spricht
Tanzt sie wie eine Feder.

Der Rote wiegelt die Leute auf
Da steht er am Fenster zählt Flugblätter ab
Setzt sich aufs Fahrrad rollt über das Pflaster
Das war das Attentat.
Der Rote hat eine Kugel im Kopf und redet
Irre. Das Riesenrad dreht sich nicht

Salome schaukelt
Kommt nicht aus der Gondel, nicht diese Nacht
Salome hat sich
Eingeschlossen. Später
Muß sie gehn und fordert den Kopf.

Sie tanzt wie eine Feder
Leicht gebogen, den Kopf zurück, auf den Zehn.

Sarah Kirsch, aus: „Landaufenthalt“
zu finden in: „Sämtliche Gedichte“
© Deutsche Verlags-Anstalt 2005


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Hälfte des Lebens

Freitag, den 5. Januar 2007

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Friedrich Hölderlin (1770-1843)

Friedrich Hölderlin••• Mir hatte es bei diesem Autor die Biographie immer mehr angetan als sein Werk. Ich gebe es gern zu: Während ich mit den die Griechen rühmenden Hymnen nichts anfangen konnte und noch immer nicht kann, übte die Vorstellung des aus Liebe irr Gewordenen und ein halbes Leben im Turm von der Welt abgekehrten Dichters zu meiner Abiturzeit eine ungemein starke Faszination auf mich aus. Über Mangel an Identifikationspotential konnte ich wirklich nicht klagen…

Aus all seinen Werken, die wieder und wieder gerühmt wurden als „vollendete Sprachgebilde, deutsche Sprachwunder“ [Johannes R. Becher], stach für mich ein Gedicht heraus, das mich ganz und gar und unmittelbar traf: „Hälfte des Lebens“. Bei diesem Stück Dichtung war es vorbei mit der „heiligen Schicklichkeit“, die für Hölderlin die Kunst nach eigenem Bekunden war. Vor diesen Zeilen stand ich sprachlos da. Mehr als diese hätte er, dachte ich damals, nicht schreiben müssen, um seinen Ruhm zu rechtfertigen.

Unterm Bett ihre Schuhe

Donnerstag, den 4. Januar 2007

Unterm Bett ihre Schuhe
sie bewahren
die Form ihrer Füße
die Wärme ihrer Füße
sie atmen
Zwei weiße Vögel
mit pechschwarzen Augen
um den Hals
ein Nickelring

Jannis Ritsos, aus: „Kleine Suite in rotem Dur“
Übertragung: Thomas Nicolaou
Verlag Volk & Welt Berlin 1984

Jannis Ritsos••• Da von Griechen die Rede war… – Den Lizenzausgaben des Verlages Volk & Welt verdanke ich einen großen Teil meiner fragmentarischen literarischen Bildung. Diesen Band mit Liebesgedichten von Jannis Ritsos habe ich besonders gehütet. Den deutschen Übertragungen von Thomas Nicolaou stehen Ritsos-Handschriften der Gedichte gegenüber, illustriert mit 24 Steinzeichnungen des Autors.

Auch so ein Buch, das man nicht verleihen darf… Wer Glück hat, findet noch ein gebrauchtes Exemplar auf amazon.de.

entdeckungen an einer frau

Mittwoch, den 3. Januar 2007

Veil - © by DanceArtist

für ksk

jetzt hast du dein geheimnis
abgestreift wie ein verschlissnes kleid
der schneider eilt
er hebt den arm
ein neues anzumessen
ihm fehlt das garn
die nackte stirn
mit schleiern zu verhängen
die nadel sticht
ihn nur ins eigne hirn
wenn er die hände nicht
von seinen augen reißt

so muss er schweigen gehn
und schauen
staunen

© Benjamin Stein (2006)

••• Noch ein Gedicht für meine Frau. Dieses hier ist für sie geschrieben.