Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Die Anker lichten

Sonntag, den 4. Februar 2007

Anchor - © 2006-2007 ~chasan

Die Anker lichten
in fremden Häfen
die Schiffe
und kehren heim.

An entlegenen Quais
wird die Fracht gelöscht,
die Gespenster
ausgetrieben.

Der Seelenkarzer
liegt ratlos auf Reede.
Auf der Brücke
stolpern die Uhren.

© Benjamin Stein (2006)

••• Manche Blaubartiade folgt einem anderen Drehbuch…

die früheren frauen

Donnerstag, den 1. Februar 2007


As Seconds Fly © 2007 by BatDesignz

in die blutkammer
neben die mutter gehängt
sind die früheren frauen nicht tot
ihr schweigen durchdringt
die wände des hauses
und sie klopfen
mit kühlen händen
in den rhythmus der tage hinein
manche stunde
gerät ins wanken
wenn das licht
günstig steht in einem
ihrer ab-
wesenden augen

© Benjamin Stein (2007)

••• Eine neuere meiner vielen Variationen über das Blaubart-Thema; ohne Kommentar.

Meine Tochter

Dienstag, den 30. Januar 2007

Daughter © 2005-2007 by greenknights

Meine Tochter zürnt mir
weil ich ihr nicht schenke
was sie sich wünscht
Mond und Sterne

Ich biete ihr Sonnenstrahlen an
nein sagt sie
die Sonne mag ich nicht
ich kann ihr nicht ins Auge sehn

Ich erzähle ihr das Märchen
von Dornröschen
Gib mir
den Prinzen
er soll mich heiraten
befiehlt sie

Warte ein Weilchen
antworte ich
inzwischen erzähle ich dir Märchen
aus tausendundeiner Nacht

Dies ist die erste Nacht

Rose Ausländer, aus: „Regenwörter. Gedichte“,
© Philipp Reclam jun. Stuttgart 1994

••• Von „Tausendundeiner Nacht“ war die Rede; da fiel mir gleich wieder eines der Gedichte von Rose Ausländer ein, die ich in diesem liebevoll zusammengestellten Reclam-Heft zum ersten Mal gelesen habe.

Den Prinzen hat meine Tochter noch nicht von mir eingefordert. Sie ist erst vier. Einen Stern hätte sie schon gern. Sie zeigt ihn mir immer am Nachthimmel, wenn ich sie ins Bett bringe und wir durchs Fenster ins kleine Himmelsquadrat des Hinterhofs schauen können.

Sie hat sich auch drei Lehrerinnen gewünscht. Sie müssten in unterschiedlichen Schulen sein und verschiedene Frisuren haben. Bei der einen möchte sie tanzen lernen, bei der zweiten Musik. Bei der dritten erst lesen und schreiben. In dieser Reihenfolge.

Ich muss ihr wohl noch mehr vorlesen

Die Dämmerung

Samstag, den 27. Januar 2007

Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.

Auf lange Krücken schief herabgebückt
Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.
Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.

An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.

Alfred Lichtenstein (1889-1914)

••• An den Kyrill-Tagen kamen hier ja zwei (Vor)-Expressionisten zu ihrem Recht. Dabei bin ich auf eine Perle von Alfred Lichtenstein gestossen, die ich den Turmseglern nicht vorenthalten wollte.


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Haltesignal

Freitag, den 26. Januar 2007

To the roots © 2004-2007 by frozen sky

Ich habe Zeit,
einen Baum
zu betrachten,

sein Geheimnis
zu ergründen –
warum er standhielt
den Stürmen.

Dies ist die Antwort
des Baums:
Wachsen zu gleicher Zeit
in die Höhe
und in die Tiefe.

Ulrich Grasnick, aus: „Der vieltürige Tag“
Verlag der Nation Berlin 1973
© Ulrich Grasnick 1992

••• Ich erinnere mich noch heute, wie Uli dieses Gedicht zum ersten Mal (für mich) in seinem Zirkel rezitierte: mit blitzenden Augen. Bilde ich es mir nur ein oder kam dieses Zitat immer grad dann, wenn einer von uns wieder einmal ganz besonders wortgewandt hatte sein wollen?