Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Der Tod wird kommen…

Samstag, den 2. Dezember 2006

Der Tod wird kommen und deine Augen haben,
der Tod, der uns begleitet
von morgens bis abends, schlaflos,
dumpf, wie ein alter Gewissensbiß
oder ein törichtes Laster. Und deine Augen
werden ein leeres Wort sein,
ein verschwiegener Schrei, ein Schweigen.
So siehst du sie jeden Morgen,
wenn du dich über dich neigst, mit dir allein
im Spiegel. O teuere Hoffnung,
an jenem Tage werden auch wir es wissen,
daß du das Leben bist und das Nichts.

Für alle hat der Tod einen Blick.
Der Tod wird kommen und deine Augen haben.
Das wird sein wie das Ablegen eines Lasters,
wie wenn man ein totes Gesicht
wieder auftauchen sieht im Spiegel,
oder auf eine verschlossene Lippe horcht.
Wir werden stumm in den Strudel steigen.

Cesare Pavese, geschrieben 1950,
wenige Wochen vor seinem Freitod
Nachdichtung: Oswalt von Nostitz

••• Von Cesare Pavese wird auf diesen Seiten noch häufiger die Rede sein. Kaum ein Dichter hat mich so stark beeinflusst wie er. Und das gilt für seine Gedichte ebenso wie für die Erzählungen und Kurzromane und die betrachtenden Überlegungen zur Poetik, die er in seinen Tagebüchern „Das Handwerk des Lebens“ anstellt.

Pavese ist für mich als Autor eine Liebe ohne Enttäuschungen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich diese Liebe allerdings seit vielen Jahren nicht mehr auf die Probe gestellt. Abgesehen von den Gedichten, die mich immer begleitet haben, stehen die meisten seiner Werke schon lange unberührt im Regal. Vielleicht habe ich ein wenig Angst, dass seine Romane wie etwa „Junger Mond“ heute doch nicht mehr das gleiche Echo in mir auslösen würden wie zu jener Zeit, als ich sie zum ersten Mal las: mit 17. Und ist es nicht zu wahrscheinlich, dass meine Auffassungen zur Poetik von seinen heute deutlich abweichen? Aber spielt das für Zuneigung und Verehrung eine Rolle?

Zornig war ich, dass er das Leben nicht mehr ertragen konnte und gegangen ist, obwohl es doch für ihn sicher noch vieles zu sagen gegeben hätte.

Nicht Worte. Eine Geste. Ich werde nicht mehr schreiben.

So lautet die letzte Eintragung in seinem Tagebuch vom 17. August 1950. Nur zehn Tage später starb er in Turin an einer Überdosis Schlaftabletten.

Lyrik stand am Beginn seiner literarischen Produktion. Und auch am Ende seines Lebens standen Gedichte. Wer sich mit Pavese bekannt machen möchte, sollte mit den Gedichten beginnen. Wie am Anfang schon erwähnt: Auf diesen Seiten wird von ihm noch häufiger die Rede sein.

Mutter

Freitag, den 1. Dezember 2006

Ich trage dich wie eine Wunde
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.
Sie schmerzt nicht immer. Und es fließt
das Herz sich nicht draus tot.
Nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre
Blut im Munde.

Gottfried Benn, aus: „Das Jahrhundertwerk. Sämtliche Gedichte / Künstlerische Prosa“
© 2006 Klett-Cotta

••• Hier stimmt doch etwas nicht, dachte ich immer.

Ich trage dich wie eine Wunde
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.

Warum dieser scheinbar verbogene Satzbau, der Relativsatz folgend auf Stirn statt auf Wunde, um die es doch wohl geht? Warum heisst es nicht etwa:

Ich trage dich auf meiner Stirn
wie eine Wunde, die sich nicht mehr schließt.

Das bedeutet eine Änderung am Versmass. Der Melodie des Textes schadet dies jedoch nicht. Doch Moment – in der Frage liegt womöglich schon die Antwort. Was schmerzt? Woraus fliesst das Herz sich nicht tot? Ist es die Wunde, oder ist es die Stirn? Die Mutter oder das Ich? Der Text lässt beide Varianten zu und die Entscheidung offen.

So gibt es keine Anklage oder Selbstanklage in diesem Text. Beide, Mutter und Sohn, halten den Konflikt lebendig. So wenig, wie die Wunde sich schliessen mag, will das Ich aufgeben, die offene Stirn auszustellen. Da das Ich aber berichtet und – sei es auch nur durch einen widerborstigen Satzbau – erkennen lässt, dass die Natur des Konflikts durchschaut ist, besteht Hoffnung.

Das Ich ist eigentlich schon dabei, sich aus der Umklammerung zu lösen. Es ist sehend geworden. Überstanden allerdings ist es noch nicht, denn …

… manchmal plötzlich bin ich blind und spüre
Blut im Munde.

Der Panther

Donnerstag, den 30. November 2006

Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Rainer-Maria Rilke (1875-1926)
aus: „Die Gedichte“
© Insel Verlag 1998

••• Mein kleines Land. In dem Land, aus dem ich komme, war alles klein: der Horizont, die Möglichkeiten und vor allem die Bürger.

Das vorherrschende Gefühl meiner Jugend war Enge, Beschränktsein. Die Ursache dafür lag nicht in den verminten Grenzstreifen und dem Stacheldraht, die den Weg in Richtung Westen versperrten. Es lag mehr an der eigentümlichen Gesellschaft, der es gelang, in diesem kleinen, beschränkten Biotop die Welt zu sehen.

Ich nahm teil am Literaturkurs unseres Abiturjahrgangs. Wenigstens mit der Nase im Buch versuchten wir, unseren Horizont zu erweitern. Wir lasen Salinger, ja sogar Kerouac, und kamen uns dabei schon subversiv vor. Als einer meiner Freunde Rilkes Panther entdeckte und uns vorlas, erkannten wir alle uns wieder. Steckte nicht in uns allen diese Kraft? Und fürchteten wir nicht alle, sie würde sich eines Tages totlaufen im Käfig, hinter tausend Gitterstäben, die unser kleines Land umgrenzten und hinter denen wir die wirkliche Welt vermuteten?

Wir waren uns unserer selbst nicht sicher.

Umsonst

Dienstag, den 28. November 2006

Paul Celan: Umsonst
Video Art: Herry Dim
Musik: Peter Habermehl
Rezitation: Berthold Damshäuser

Umsonst malst du Herzen ans Fenster:
der Herzog der Stille
wirbt unten im Schloßhof Soldaten.
Sein Banner hißt er im Baum – ein Blatt, das ihm blaut, wenn es herbstet;
die Halme der Schwermut verteilt er im Heer und die Blumen der Zeit;
mit Vögeln im Haar geht er hin zu versenken die Schwerter.

Umsonst malst du Herzen ans Fenster: ein Gott ist unter den Scharen,
gehüllt in den Mantel, der einst von den Schultern dir sank auf der Treppe, zur Nachtzeit,
einst, als in Flammen das Schloß stand, als du sprachst wie die Menschen: Geliebte…
Er kennt nicht den Mantel und rief nicht den Stern an und folgt jenem Blatt, das vorausschwebt.
‚O Halm‘, vermeint er zu hören, ‚o Blume der Zeit‘.

Paul Celan, aus: „Mohn und Gedächtnis“ (1952)
in: „Gedichte I“
© 1993 Suhrkamp Verlag

••• Von Paul Celan wird hier noch viel zu berichten sein. Müsste ich einen Dichter nennen, dessen Klang und Empfinden ich mich am nähesten fühle, wäre es womöglich Paul Celan. Womöglich, sage ich, denn eine solche Entscheidung wäre nur sehr schwer zu treffen.

Neben den Gedichten hat mich auch seine Biographie nie losgelassen, sein Ankämpfen gegen die Dämonen der Erinnerung und der Schuldgefühle als Überlebender, sein Wiederaufstehen nach schweren Rückschlägen und Klinikaufenthalten und schliesslich den Plagiatsbeschuldigungen durch Claire Goll.

Paul Celan starb am 20. April 1970. Er ertrank in der Seine. Als ich geboren wurde, war er, der Wahlverwandte, gerade einen Monat nicht mehr in dieser Welt.

Die Mangel

Montag, den 27. November 2006

Die inquisitoren sind unter uns. Sie leben in souterrains großer mietshäuser und ihre gegenwart verrät nur die aufschrift Hier Mangel.

Tische mit prallen bronzenen muskeln, mächtige walzen, die langsam aber genau zermalmen, das triebrad, das kein erbarmen kennt – warten auf uns.

Laken, die aus der mangel fallen, sind wie leere körper von hexen und ketzern.

Zbigniew Herbert, aus: „Inschrift“ (1967)
© 1979 Suhrkamp Verlag

••• Mangel war das bestimmende Gefühl meiner Kindheit und Jugend „im kleineren Deutschland“. Und ich meine das nicht materiell. Es herrschten ja keine koreanischen Verhältnisse. Es mag nicht viel gegeben haben, doch genug. Man war satt, man wohnte, fuhr sogar Auto, also Trabant. Aber emotional und intellektuell konnte ich unmöglich satt werden. Die Familie im Kleinen nahm sich da mit dem Land im Grossen nicht viel. Vielleicht lag es auch daran, dass mein Hunger immer enorm war. Das mag sein.


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Der Turmsegler

Sonntag, den 26. November 2006

Turmsegler

Turmsegler mit den zu großen Flügeln, der da kreist und schreit seine Freude rings um das Haus. So ist das Herz.

Er lässt den Donner verdorren. Er sät in den heiteren Himmel. Streift er den Boden, schlitzt er sich auf.

Sein Widerpart ist die Schwalbe. Er verabscheut die häusliche. Was gilt das schon: Filigran des Turms?

Er rastet in dunkelster Höhlung. Niemand hat es so eng wie er.

Im Sommer der langen Helle streicht er davon in die Finsternis durch die Fensterläden der Mitternacht.

Kein Auge vermag ihn zu halten. Er schreit, das ist sein ganzes Dasein. Ein schmales Gewehr streckt ihn nieder. So ist das Herz.

René Char, aus: „Der erzählende Quell“ (1947)
in: „Einen Blitz bewohnen“
© 1995 Fischer Taschenbuch Verlag