Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Gebet

Sonntag, den 10. Dezember 2006

Ich brauche endlich wieder eine Liebe.
Sie muß nicht glücklich sein,
sie muß nur machen,
daß ich noch einmal
an den Ort gelange,
an dem die Hoffnungen gegeben werden.
Doch dorthin kommt nicht einer ohne Liebe.
Und wäre sie auch nur
von kurzer Dauer.
Und würde sie mich auch
in Stücke reißen.
Ach, träfe mich noch einmal
eine Liebe.
Nur nicht tagtäglich
dieses kleine Sterben.

Heinz Kahlau (geb. 1931)
aus: „Du. Liebesgedichte.“, Aufbau Verlag

••• Wenn von Liebesgedichten die Rede ist, muss ich Heinz Kahlau erwähnen. Meinen ersten Gedichtband überhaupt bekam ich von meiner Mutter geschenkt. Ich war damals elf. Sie hatte eine sehr gute Wahl getroffen. Heinz Kahlaus Band „Du. Liebesgedichte“ hat viele Auflagen erlebt und ist noch immer in einer schönen Ausgabe bei Aufbau erhältlich.

Kahlaus Gedichte sind mit den bisher hier zitierten Stücken schwer zu vergleichen. Kahlau ist nüchtern, er ist nicht der Dichter der grossen Bilder, der dichten Empfindungsschilderungen. Doch zumeist treffen seine Gedichte ein „Elementarteilchen“ des menschlichen Gefühls. Und das ist schliesslich auch eine wesentliche Zutat wirklicher Dichtung.

Gesang von einer Geliebten

Samstag, den 9. Dezember 2006

(7. Psalm)

  1. Ich weiß es, Geliebte: jetzt fallen mir die Haare aus vom wüsten Leben, und ich muß auf den Steinen liegen. Ihr seht mich trinken den billigsten Schnaps, und ich gehe bloß im Wind.
  2. Aber es gab eine Zeit, Geliebte, wo ich rein war.
  3. Ich hatte eine Frau, die war stärker als ich, wie das Gras stärker ist als der Stier: es richtet sich wieder auf.
  4. Sie sah, daß ich böse war, und liebte mich.
  5. Sie fragte nicht, wohin der Weg ging, der ihr Weg war, und vielleicht ging er hinunter. Als sie mir ihren Leib gab, sagte sie: Das ist alles. Und es wurde mein Leib.
  6. Jetzt ist sie nirgends mehr, sie verschwand wie die Wolke, wenn es geregnet hat, ich ließ sie, und sie fiel abwärts, denn dies war ihr Weg.
  7. Aber nachts, zuweilen, wenn ihr mich trinken seht, sehe ich ihr Gesicht, bleich im Wind, stark und mir zugewandt, und ich verbeuge mich in den Wind.

Bertolt Brecht (1920)

••• Brechts Psalmen – entstanden zu Beginn der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts – waren für mich eine grosse Inspiration. Sind es wirklich Gedichte? Handelt es sich eher um lyrische Prosa? Diese Grenzberührng faszinierte mich, und ich nahm die Idee in vielen Versuchen auf. So entstanden im Frühjahr/Sommer 1989 mehrere „Psalmen“ unter dem Titel „Psalmen an den Dämon“.

Letzter Psalm

Uns ekelt Der eigene körper Im verfall Ekelt uns an unser Wort das Lügt kunst Zu gefallen Hilflos sind wir in unserer allmacht Längst sind die wälder gerodet Begradigt die flüsse Die götter verworfen als saboteure Des fortschritts unnützer trost

Dennoch haben wir städte Gebaut Moderne tempel des baal ziehen uns an Und heimlich beten wir zu ihm Reisst uns der scharfe wind der weht das schiere fleisch von den schlotternden knochen In unserem hunger Höhnt der greise prophet Uns geht es gut

Immer ist fern das ziel Wenn ich suche Mein freund Ruht im Verschwiegnen Gefallen von deinen lippen Wie herbstlaub welk jeder traum Am ende sind wir Noch nicht ganz in mantel und hut Das verbrechen Zieht ein Die verwesung besiegt das vormals ewige

In jenen letzten Monaten der DDR war der Druck unerträglich. Das Vertraute, mit dem sich nicht mehr leben liess, musste sterben. Vor der Zeit des Aufbruchs durchlebten vieler meiner Freunde – wir waren damals zwischen 17 und 20 – eine Zeit heftiger Depression. Denn es war ganz und gar unklar, wie alles ausgehen würde. Schliesslich hätten auch Panzer durch Ost-Berlin fahren können und der Staat seinen Tod noch einmal hinausschieben…

An M.

Freitag, den 8. Dezember 2006

In jener Nacht, wo du nicht kamst
Schlief ich nicht ein, sondern ging oftmals vor die Türe
Und es regnete, und ich ging wieder hinein.

Damals wußte ich es nicht: Aber jetzt weiß ich es:
In jener Nacht war es schon wie in jenen späteren Nächten
Wo du nie mehr kamst, und ich schlief nicht
Und wartete schon fast nicht mehr
Aber oft ging ich vor die Tür
Weil es dort regnete und kühl war.

Aber nach jenen Nächten und auch in späteren Jahren noch
Hörte ich, wenn der Regen tropfte, deine Schritte
Vor der Tür und im Wind deine Stimme
Und dein Weinen an der kalten Ecke, denn
Du konntest nicht herein.

Darum stand ich oft auf in der Nacht und
Ging vor die Tür und machte sie auf und
Ließ herein, wer da keine Heimat hatte.
Und es kamen Bettler und Huren, Gelichter
Und allerlei Volk.

Jetzt sind viele Jahre vergangen, und wenn auch
Noch Regen tropft und Wind geht
Wenn du jetzt kämest in der Nacht, ich weiß
Ich kennte dich nicht mehr, deine Stimme nicht
Und nicht dein Gesicht, denn es ist anders geworden.
Aber immer noch höre ich Schritte im Wind
Und Weinen im Regen und daß jemand
Herein will.

(Obgleich du doch damals nicht kamst, Geliebte, und ich
(Obgleich du doch damals nicht kamstwar es, der wartete -!)
Und ich will hinausgehen vor die Tür
Und aufmachen und sehen, ob niemand gekommen ist.
Aber ich stehe nicht auf und gehe nicht hinaus und sehe nicht
Und es kommt auch niemand. 

Bertolt Brecht (1922)

Erinnerung an die Marie A.

Donnerstag, den 7. Dezember 2006

1
An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.

2
Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei.
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: ich kann mich nicht erinnern
Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst.
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: ich küßte es dereinst.

3
Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke dagewesen wär
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.

Bertolt Brecht
(21.II.20, abends 7h im Zug nach Berlin)

••• Die „Erinnerung an die Marie A.“ las ich zum ersten Mal mit 13. Die Entdeckung – dieses Gedichts und des Dichters Brecht allgemein – verdanke ich einer Lehrerin. Sie lieh mir ein in bordeauxfarbenes Leinen gebundenes Exemplar der von Werner Hecht besorgten Ausgabe der „Gedichte über die Liebe“. Der Band versammelt Gedichte des Schülers wie des berühmten Dichters und Theraterleiters Brecht, aus allen Phasen seines Lebens. Da gibt es Poetisches, Vitales und Derbes.

Vom „Hinternschwenken“ hatte ich zu diesem Zeitpunkt nur allzu vage Vorstellungen. Aber ich war – mit ständig wechselndem Gegenstand des Interesses – nahezu ununterbrochen verliebt. Oder interessiert? Ich war verliebt ins Verliebtsein, ich studierte, genoss es und zelebrierte. Da kam mir diese Sammlung grad recht. Als „Liebhaber“ in Wartestellung habe ich nicht viel gelernt. Um es mit Brecht selbst zu sagen:

Sagte mir einst eine Frau beim Beginne:
Was sie beim Künstler so wenig verschmerzen
Sei, daß er immer die Frau über seiner Liebe vergesse.
Weihrauch bringt ihr uns und – Kerzen.
Und wir erregen statt eurer Sinne –
Nur Interesse.

In diesen Gedichten – fernab der Lehrstücke und politischen Hymnen – ist Brecht mir am liebsten. Ich schätze die Frische im Ausdruck und die Vielfalt der Formen. Um sie zu zeigen, will ich in den nächsten Tagen noch zwei weitere Gedichte aus diesem Band der Marie A. zur Seite stellen. Geschrieben zwischen 1920 und 1922, variieren sie das gleiche Thema, jedoch in ganz eigenen Formen.

Todesfuge

Mittwoch, den 6. Dezember 2006

Paul Celan spricht: Todesfuge

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen
Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland

dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith

Paul Celan (1920-1970)

••• Literatur ist nicht meine einzige Leidenschaft. Zu den anderen zählt die Musik. Meine Eltern besassen eine kleine, aber sehr gute Sammlung klassischer Schallplatten. Besassen: Denn ich habe sie so oft auf meinem musealen Plattenspieler laufen lassen, dass sie nach meinem Auszug daheim nicht mehr zu brauchen waren. Ich hatte schon früh die Vorstellung, Kompositionstechniken aus der Musik in die Textarbeiten zu übernehmen, Prosa wie Lyrik. Ich erzählte einer Freundin davon, und sie gab mir die „Todesfuge“ von Celan zu lesen.

So bin auf Celan seltsamerweise erst spät gestossen. Von Sommer bis Winter 1989 habe ich als Nachtpförtner in einem Altenheim gearbeitet. Ein Germanistik-Studienplatz war mir trotz Auszeichnungsabitur verwehrt worden, nachdem ich mich geweigert hatte, in der Nationalen Volksarmee als Grenzsoldat zu dienen. Lehrer hätte ich pikanterweise werden dürfen. Aber das wollte ich nicht.

In den ruhigen Nächten in der Pförtnerloge arbeitete ich an einem ambitionierten Projekt, einer Sonate in Prosa. Der Titel ist mir entfallen, das Thema ebenso. Das Manuskript fiel einer meiner regelmässigen Manuskriptvernichtungen zum Opfer. Gut möglich, dass die Lektüre der „Todesfuge“ Auslöser für eine solche Aktion war. Vor diesem Gedicht musste man demütig werden. Soll mir noch einer erzählen, Literatur sei keine Kunst! Celan hat die poetischen Versatzstücke – an sich schon stark genug – durch die Kompositionsanleihe bei der klassischen Fuge zu einem Stück Dichtung werden lassen, deren krafvollen Sog man sich nicht entziehen kann.

Ich wusste damals nichts von Immanuel Weissglas. Und hätte ich sein Gedicht schon gekannt, hätte ich kaum anders darüber gedacht als heute. Wer auch immer der ursprüngliche Autor des poetischen Materials war, das sich in der „Todesfuge“ findet, Celans „Vertonung“ geht so weit über den traditionellen Stil des Weissglas-Gedichts hinaus, dass man unter keinen Umständen von Plagiat reden kann. Celan befreit vielmehr die poetischen Ideen aus dem Korsett des Versmasses, in das sie bei Weissglas gezwängt scheinen. Er ist der Virtuose. Als hätte er nie etwas anderes getan als zu komponieren, schenkt er uns rein mit Mitteln der Sprache die schönste Vertonung, die Weissglas sich hätte wünschen können.

Paul Celan: Umsonst
Video Art: Herry Dim
Musik: Peter Habermehl
Rezitation: Berthold Damshäuser

ER

Dienstag, den 5. Dezember 2006

Wir heben Gräber in die Luft und siedeln
Mit Weib und Kind an dem gebotnen Ort.
Wir schaufeln fleißig, und die andern fiedeln,
Man schafft ein Grab und fährt im Tanzen fort.

Er will, daß über diese Därme dreister
Der Bogen strenge wie sein Antlitz streicht:
Spielt sanft vom Tod, er ist ein deutscher Meister,
Der durch die Lande als ein Nebel schleicht.

Und wenn die Dämmrung blutig quillt am Abend,
Öffn‘ ich nachzehrend den verbissnen Mund,
Ein Haus für alle in die Lüfte grabend:
Breit wie der Sarg, schmal wie die Todesstund.

Er spielt im Haus mit Schlangen, dräut und dichtet,
In Deutschland dämmert es wie Gretchens Haar.
Das Grab in Wolken wird nicht eng gerichtet:
Da weit der Tod ein deutscher Meister war.

Immanuel Weissglas (1920-1979)

••• Immanuel Weissglas war ein Schulfreund Paul Celans. Er gehört zum Phänomen der Dichtergruppe aus Czernowitz, die viele, bemerkenswerte jüdische Dichter hervorbrachte. Einen Band von ihm konnte ich bislang nicht auftreiben. Für sachdienliche Hinweise auf einen solchen wäre ich dankbar.

Eigentlich wollte ich heute an dieser Stelle über Celans „Todesfuge“ schreiben, über musikalische Mittel und Kompositionstechniken in der Dichtung. Das sei kurz aufgeschoben. Das Gedicht von Weissglas entstand vor der „Todesfuge“ und enthält viele der poetischen Bausteine, aus denen Celan vermutlich seine Fuge in Versen komponierte.

Ein Vergleich lohnt sich. (Stay tuned.)

Ein Blatt fällt

Sonntag, den 3. Dezember 2006

l(a
le
af
fa

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s)
one
l

iness

e. e. cummings, aus: „Complete Poems 1904-1962“
Liveright Publishing, 1994

••• Nein, ganz leicht macht es uns e. e. cummings hier nicht. Für all jene, die hier ein Silbenrätsel vermuten – und die sich dessen auch sicher nicht zu schämen brauchen – hier eine Übertragung des Textes in die Ebene:

l(a leaf falls)onliness

Und als Versuch einer Übertragung ins Deutsche:

e(ein
bl
att

ll

t)
in
sam

keit

Dazu noch der Versuch der deutschen Übertragung, nun ebenfalls in die Ebene übersetzt:

e(ein blatt fällt)insamkeit

Natürlich gehört dieses Gedicht von oben nach unten gesetzt. Die Buchstaben zeichnen den Fall des Blattes nach. Das macht es dem Leser nicht eben leichter, aber ein wenig Versenkung darf schon abverlangt werden. Schliesslich wird man mit der vielleicht sparsamsten Möglichkeit, alles über ein fallendes Blatt zu sagen, belohnt. Oder – wie man es nehmen mag – mit einer der intensivsten und treffendsten Beschreibungen eines elementaren menschlichen Gefühls.