Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Das falsche und wahre Grün

Montag, den 18. Dezember 2006

Du wartest nicht mehr auf mich mit dem billigen
Herzen der Uhr. Gleich, ob du das Grau
öffnest oder hältst: es bleiben dornige,
kahle Stunden, mit dem plötzlichen
Schlagen von Blättern auf den Scheiben deines
Fensters, hoch über zwei Wolkenstraßen.
Mir bleibt die Trägheit eines Lächelns,
der dunkle Himmel eines Kleides, der rostfarbne
Samt um deine Haare geschlungen
und gelöst auf den Schultern, und dies dein Gesicht
in kaum bewegtes Wasser versunken.

Schläge rauhgelber Blätter,
wie Vögel von Ruß. Andere Blätter
bersten nun die Zweige und schnellen schon los,
ineinander verschlungen: das falsche und wahre Grün
des April, jenes entfesselte Grinsen
des sichern Erblühns. Und du blühst nicht,
treibst keine Tage, noch Träume, die aus unserem
Jenseits steigen. Hast nicht mehr deine kindlichen
Augen, hast nicht mehr zarte Hände,
mein Gesicht zu suchen, das mir entflieht?
Es bleibt die Scheu, Verse zu schreiben
ins Tagebuch oder einen Schrei auszustoßen
ins Leere oder in das unbegreifliche Herz, das
mit seiner abschüssigen Zeit noch kämpft.

Salvatore Quasimodo,
Übertragung: Gianni Selvani

••• Die Biographien von Cesare Pavese und Salvatore Quasimodo haben manches gemeinsam. An entgegengesetzen Enden ihres Landes geboren, waren beide aufs engste Landschaft und Menschen ihrer heimatlichen Regionen verbunden: Pavese Piemont, Quasimodo Sizilien.

Während Pavese, als Einaudi-Lektor dem Duce-Regime missliebig geworden, in Brancaleone in Verbannung sass, entstanden Quasimodos sogenannte Resistenza-Gedichte. Seine Verse gingen von Mund zu Mund. Sein berühmtester Dreizeiler fand sich sogar an den Wänden von Gefängniszellen:

Und schon ist es Abend

Ein jeder steht allein auf dem Herzen der Erde
getroffen von einem Sonnenstrahl:
und schon ist es Abend.

Beide machten sich einen Namen als Übersetzer von Werken der Weltliteratur ins Italienische, und beide nahmen schliesslich Lehraufträge als Literaturprofessoren an italienischen Hochschulen an.

Quasimodo allerdings vermochte seinem Leben eine glücklichere Wendung zu geben. Im Jahre 1959 erhielt der den Nobelpreis für Literatur und hinterliess eine Fülle immens starker Gedichte, als er 1968 in Neapel starb. Das zitierte Gedicht ist der Titeltext des 1959 erschienenen Bands „Il falso e vero verde“.

Drohung

Sonntag, den 17. Dezember 2006

Ich kann nicht allein schlafen.
Ich höre sein Lied.
Die Zehen laufen mir von selbst davon,
seinen Schritten nach.
Knospen sind mir ausgeschossen
aus den Brüsten.
Wenn du mich nicht verheiratest, Vater,
werde ich dir Schande machen.
Ich liege auf der Straße
und warte, daß er mich trifft.
Mein Schoß bellt nach ihm.
Ein Bein in einem,
das zweite im anderen Graben.
Mein Schoß trinkt die Straße,
auf der er davonging.

Anonym, aus: „Zigeunerlieder“
zusammengestellt von: Rade Uhlik und Branko Radicvic
Philipp Reclam jun. Leipzig 1977

••• Dieses Liebesgedicht ganz anderer Art als die bisher zitierten habe ich in einem alten DDR-Reclam-Bändchen gefunden. Die Lieder in dieser Sammlung wurden im Gebiet des heutigen Serbien wandernden Sängern und Sängerinnen vom Munde abgeschrieben.

Pferdestehlen, Gefängnisaufenthalte, Armut, Hunger und verwaiste Kinder – das sind die Themen, um die diese Lieder kreisen. Doch auch die Liebe kommt immer wieder zu ihrem Recht. Es gibt da wenig Romantik aber keinen Mangel an Leidenschaft.

Eine solch kräftige und dabei doch nicht weniger poetische Beschreibung körperlicher Sehnsucht nach dem Geliebten – zumal mit der Stimme einer Frau – findet sich selten.

bahnhof

Samstag, den 16. Dezember 2006

grau grau graues durcheinander
von wo kein zug abfährt wo ein riesiger rabe
sich schwarz zwischen die schienen setzt
bahnhof das ist aller orte kältester nachts
schläft niemand

seht unsre gesichter vom laster zerfetzt und
wenn der bahnhof abfährt seht uns trinken
gefangenschaft trinken aus schmutzigem glas
trinken bis der teufel kommt sprechen
zu keinem und alternd noch immer uns wundern
über die gedanken des zerrauften haars

sommer winter jahrhunderte kommen vorüber
uns berühren sie nicht seht uns verweilen
im rauch der rasenden wartesäle einmal
weinen ein paar mal lachen und lauschen
wenn vor dem fenster ein betrunkner
wie verrückt einen namen schreit.

Wolfgang Hilbig, aus: „abwesenheit“
S. Fischer Verlag (1979)

••• Der Süden meines gewesenen kleinen Landes war fruchtbar für Dichtung. Er ist es immer noch. Ich glaube sogar, diese Gegend hat einen ganz eigenen Ton hervorgebracht, dem man nachlauschen kann, wenn man Wolfgang Hilbig liest.

Als ich Mitte November 1989 meinen ersten Ausflug nach West-Berlin machte, gab es wenig angenehme Eindrücke. [Ich sollte ein anderes Mal mehr davon schreiben; doch nicht jetzt.] Aber ich kehrte mit zwei Büchern heim: Salman Rushdies „Satanischen Versen“ und dem Gedichtband „abwesenheit“ von Wolfgang Hilbig, der in der DDR verboten war. Zum ersten Mal gehört hatte ich von Hilbig in einer kalten Nacht auf dem Dresdner Hauptbahnhof.

bahnhof das ist aller orte kältester nachts
schläft niemand

Mit Undine Materni, die mir diese Verse auf dem Bahnsteig vorsagte, war ich oft und über vieles herzlich uneins. Nicht aber, was Hilbig betrifft. Wir standen staunend und in großer Bewunderung vor diesen Versen. Hilbig traf mit ihnen schmerzlich genau. Dass seine in „abwesenheit“ zusammengestellten, zwischen 1965 und 1977 entstandenen Gedichte in der DDR nicht erscheinen konnten, lag auf der Hand.

Seine Biographie versetzte mich in Angst und Schrecken: Erdbauarbeiter, Aussenmonteur, Abräumer in einer Ausflugsgaststätte und schliesslich Heizer. In den wenigen Monaten meines Nachtpförtnerdaseins habe ich mir oft genug ausgemalt, wie das mit mir werden soll, wenn es weiter mit der Anpassung hapert. Wenn ich weiter schreiben und unbedingt schreiben will, den „Mund voll Wind“, wie Hilbig es ausdrückte. Von solchen Aussichten träumt es sich nicht gut.

Ich hatte Glück. Mein Randstehen dauerte nur wenige Monate. Dann waren die Grenzen offen; und der Rest erledigte sich schnell. Ich hatte Glück und war – bei aller beunruhigenden Unsicherheit über die bevorstehende Zukunft – sehr erleichtert.

An Hilbigs „bahnhof“ musste ich an jenem Tag im November denken, als ich mich durch die Katakomben des Berliner S-Bahnhofs Friedrichstrasse drängte auf meinem Weg zur anderen Seite der Welt, die in Wirklichkeit nur die andere Seite des gleichen Bahnsteigs war. Und so ging ich in die nächste grössere Buchhandlung und kaufte mir mein Exemplar „abwesenheit“ und trug es nach Hause.

meine freundin

Freitag, den 15. Dezember 2006

meine freundin ist einsam wie ich. wir stammen
von vätern und müttern zu vielen, wir stammen
von männern, die einander nicht grüßen, hell
ihre schläfen, hoch und sich fremd. meine
ihre schläfen, hoch und sich fremd. meinefreundin
liebt weiße lilien zum tag, die tragen wir nicht zu den
gräbern hinaus, die blühen an unseren augapfelpaaren,
als schlieren zu treiben darauf. und niemals / niemals sich
als schlieren zu treiblösen. unser blick ist von lilien verstellt

Ulrike Almut Sandig, aus: „Sinn und Form“ 5/2006

••• Ulrike Almut Sandig hätte ich früher entdecken können. Habe ich aber nicht, weil wohl mein Blick zu oft rückwärts gewandt ist.

Ulrike Almut Sandig, 1979 in Großenhain geboren, schloss nach längeren Aufenthalten in Frankreich und Indien ein Studium der Religionswissenschaft und Indologie an der Universität Leipzig ab. Seit 2004 studiert sie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und veröffentlicht in Zeitschriften und Anthologien. Sie ist Mitgründerin des Straßenliteraturprojektes augen::post (2001 – 2005), gemeinsam mit Marlen Pelny steht sie seit 2001 mit einem literarisch-musikalischen Programm auf der Bühne. Ihr Lyrik-Band „Zunder“ erschien 2005 in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung. Im Mai 2006 wurde sie mit dem Lyrikpreis Meran ausgezeichnet.

Dass ich nun doch auf die Gedichte dieser jungen Lyrikern gestossen bin, verdanke ich einer – man darf das schon so sagen – altehrwürdigen Freundin: „Sinn und Form“. Die Zeitschrift der Akademie der Künste erscheint 6x im Jahr, seit Jahrzehnten in unverändert nüchternem Outfit. 58. Jahrgang steht heute auf dem Cover. Doch staubig ist höchstens die äussere Anmutung des Heftes. Für mich sind es auch und besonders die Veröffentlichungen neuer deutscher Lyrik, die das Heft immer wieder zu einer spannenden Lektüre machen, wenn sie auch nur einen kleinen Teil der angebotenen Inhalte ausmachen.

Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten und einzigen Besuch in der Redaktion. Das war 1992. Ein Kapitel meines später bei Ammann erschienenen „Alphabet des Juda Liva“ sollte im Vorabdruck veröffentlicht werden. Ich hatte die Korrekturfahnen durchzusehen. Alles musste schnell gehen. Eine sehr resolute, für mein damaliges Verständnis reife Dame erwartete mich. Gern gelesen hätte sie das Stück Prosa, sagte sie. Aber: „Sie müssen noch viel lernen!“

Recht hatte sie, mache ich auch. Unter anderem dank „Sinn und Form“. Mit einer gehörigen Erweiterung des allgmeinen Bildungshorizonts muss immer gerechnet werden, wenn man eine „Sinn und Form“ zur Hand nimmt und zu stöbern beginnt.

Denn

Mittwoch, den 13. Dezember 2006

Denn
ich hab dir
nichts versprochen
nur den Docht für die Lampe
und das Kännchen Öl
für gedämpftes Licht
auf dem Tisch
mit den Blutflecken

Den Teppich
kann ich nicht weben
mit diesen Fäden aus Draht

Sag nicht „Gute Nacht“
die Nacht ist nicht gut
die fremde vergeßliche Nacht

Rose Ausländer, aus: „Regenwörter. Gedichte“,
© Philipp Reclam jun. Stuttgart 1994

••• Ich habe Immanuel Weissglas erwähnt und Paul Celan. Zu den Czernowitzern gehört noch eine andere grosse Dichterin: Rose Ausländer. Sie verliess die Stadt mehrfach und kehrte mehrfach zurück. Zum ersten Mal führte ihr Weg sie 1916 nach Wien. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte sie zurück, um nach dem Tod ihres Vaters 1920 der Not gehorchend zu Verwandten in den kleinen Ort Winona im Mittelwesten der USA zu übersiedeln.

Den sanften Namen Winona
verdankst du der Legende vom schönen Indianermädchen
das sich vom Felsen stürzte
aus verschmähter Liebe

1931 kam sie nach einer gescheiterten Ehe erneut nach Czernowitz und überlebte – anders als 90% der 55.000 Juden ihrer Heimatstadt – die Shoah.

Wie Celan kämpfte auch sie mit den unbeantwortbaren Fragen der Überlebenden. Die Dichtung war ihr Überlebenselixier. Aus einem Werk von 2500 Gedichten hat Helmut Braun 1993 für Reclam eine Sammlung von 100 Gedichten zusammengestellt. Vielleicht hat sie nicht die poetische Kraft Celans. [Höre ich Aufschreie?] Statt Rafinesse im Umgang mit der Form gibt sie einem klaren, nüchternen Ausdruck den Vorzug.

Viele ihrer Gedichte erreichen mich nicht. Das will ich gar nicht leugnen. Aber allein in diesem Reclam-Bändchen steckt ein ganzes Bündel von Lesezeichen: Wegweiser zu Gedichten, zu denen man zurückkehrt, wieder und wieder.

Erklär mir, Liebe

Dienstag, den 12. Dezember 2006

Dein Hut lüftet sich leis; grüßt, schwebt im Wind,
dein unbedeckter Kopf hat’s Wolken angetan,
dein Herz hat anderswo zu tun,
dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein,
das Zittergras im Land nimmt überhand,
Sternblumen bläst der Sommer an und aus,
von Flocken blind erhebst du dein Gesicht,
du lachst und weinst und gehst an dir zugrund,
was soll dir noch geschehen –

Erklär mir, Liebe!

Der Pfau, in feierlichem Staunen, schlägt sein Rad,
die Taube stellt den Federkragen hoch,
vom Gurren überfüllt, dehnt sich die Luft,
der Entrich schreit, vom wilden Honig nimmt
das ganze Land, auch im gesetzten Park
hat jedes Beet ein goldner Staub umsäumt.

Der Fisch errötet, überholt den Schwarm
und stürzt durch Grotten ins Korallenbett.
Zur Silbersandmusik tanzt scheu der Skorpion.
Der Käfer riecht die Herrlichste von weit;
hätt ich nur seinen Sinn, ich fühlte auch,
daß Flügel unter ihrem Panzer schimmern,
und nähm den Weg zum fernen Erdbeerstrauch!

Erklär mir, Liebe!

Wasser weiß zu reden,
die Welle nimmt die Welle an der Hand,
im Weinberg schwillt die Traube, springt und fällt.
So arglos tritt die Schnecke aus dem Haus!

Ein Stein weiß einen andern zu erweichen!

Erklär mir, Liebe, was ich nicht erklären kann:
sollt ich die kurze schauerliche Zeit
nur mit Gedanken Umgang haben und allein
nichts Liebes kennen und nichts Liebes tun?
Muß einer denken? Wird er nicht vermißt?

Du sagst: es zählt ein andrer Geist auf ihn…
Erklär mir nichts. Ich seh den Salamander
durch jedes Feuer gehen.
Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.

Ingeborg Bachmann (1926-1973)

••• Wenn wir bei Liebeslyrik sind, darf dieses Gedicht nicht fehlen. Das Wort Salamander ist für mich ganz durch dieses Gedicht geprägt. Und wo immer ich es verwende, schwingt Bachmanns Salamander aus „Erklär mir, Liebe“ mit.

Für Freunde des Werks von Ingeborg Bachmann sei an dieser Stelle auf eine beeindruckende Online-Kompilation ihres Werks hingewiesen. Das von Ricarda Berg gestaltete Ingeborg Bachmann Forum zu durchstöbern, erfordert Zeit! Soll keiner sagen, ich hätte nicht gewarnt.

Einst griffst du meinen Namen

Montag, den 11. Dezember 2006

Einst griffst du meinen Namen
Auf deiner Feuerharfe
Wo wir auch hintraten
Wuchs vierblättriger Klee

Wir schwiegen wie zwei Gärten zur Nacht
Vorm Flüstern der Quellen unsrer Herzen
Es gab nur Festtage in deinen Blicken
Unsre Hände waren voller Gebete

Die Vögel sangen nichts als Hymnen
So sehr liebten wir uns
Heute wein ich allein
Die heimatlosen Tiere

Schlafen im Sägmehl meiner Haare
Der Spiegel des Sees zersprang
Deine tausend nährenden Lächeln
Liegen auf seinem Grund

Umsonst such ich dich:
Du bist abgereist
Nach dem sechsten Kontinent
Und nahmst unsre Sonntage mit

Claire Goll (1901-1977)
aus: Poemes de la Vie et de la Mort (1927)

••• Irena Stasch hat sich die Mühe gemacht, eine Online-Anthologie deutschsprachiger Liebeslyrik zusammenzustellen. Derzeit umfasst die Sammlung über 3500 Gedichte von 124 Dichtern und Dichterinnen deutscher Sprache. Wenngleich auf deutsche Werke ausgerichtet, finden sich in Irina Staschs Online-Sammlung inzwischen auch Übersetzungen, etwa des „Hohelieds“. Liebeslyrik aus anderen Kulturkreisen und Sprachen stellt Frau Stasch in ihrem Online-Monatsmagazin „Das Liebes – Poetische – Manuskript“ vor.

Und was finde ich da auf den Deutsche-Dichterinnen-Seiten? Ein Gedicht von Claire Goll. Ein Büchlein mit Texten von Claire und Yvan Goll habe ich einmal in der Berliner S-Bahn verloren. Das Gedicht habe ich nicht vergessen.