Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Männliche und weibliche Reime

Dienstag, den 22. Mai 2007

••• Vorgestern kam ein dickes E-Mail-Paket von Undine Materni. Darin unter anderem eine Neuübersetzung der Shakespeare-Sonette. Sie stammt von Jan Weinert, geboren 1963 in Jena und selbst umtriebiger Lyriker und Erzähler. Einmal begonnen, konnte ich nicht aufhören zu lesen; und eines ist klar: Diese Übertragung verdrängt für mich nun jene von Frau Schuenke ganz gründlich. Der Hauptgrund ist die ungeheure Textnähe, die Weinert in seiner Nachdichtung gelingt. Doch ganz nah ist Weinert dem Original auch in der musikalischen Stimmung der Sonette.

Letzteres konnte ich nur erfühlen, ohne es genauer belegen zu können. Glücklicherweise lieferte mir Undine Materni auch die Erklärung: männliche und weibliche Reime.


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Der Gehenkte

Sonntag, den 20. Mai 2007

Galgen

Der Frager:
Den ich vom Galgen schnitt • wirst du mir reden?

Der Gehenkte:
Als unter der verwünschung und dem schrei
Der ganzen stadt man mich zum tore schleppte
Sah ich in jedem der mit steinen warf
Der voll verachtung breit die arme stemmte
Der seinen finger reckte auf der achsel
Des vordermanns das aug weit aufgerissen •
Dass in ihm einer meiner frevel stak
Nur schmäler oder eingezäunt durch furcht.
Als ich zum richtplatz kam und strenger miene
Die herrn vom rat mir beides: ekel zeigten
Und mitleid musst ich lachen: ‚ahnt ihr nicht
Wie sehr des armen sünders ihr bedürft?‘
Tugend – die ich verbrach – auf ihrem antlitz
Und sittiger frau und maid • sei sie auch wahr •
So strahlen kann sie nur wenn ich so fehle!
Als man den hals mir in die schlinge steckte
Sah schadenfroh ich den triumf voraus:
Als sieger dring ich einst in euer hirn
Ich der verscharrte .. und in eurem samen
Wirk ich als held auf den man lieder singt
Als gott .. und eh ihrs euch versahet • biege
Ich diesen starren balken um zum rad.

Stefan George

••• Kein gutes Wort über Stefan George bislang. Gerecht ist das nicht und wird ihm nicht gerecht. Daher heute ein Gedicht, an dem ich mich festgelesen habe. Plastisch, philosophisch, poetisch und unverkennbar George.

Vergleich ich dich mit einem Sommertag?

Freitag, den 18. Mai 2007

Shall I compare thee to a summer’s day?
Thou art more lovely and more temperate:
Rough winds do shake the darling buds of May,
And summer’s lease hath all too short a date:
Sometime too hot the eye of heaven shines,
And often is his gold complexion dimmed,
And every fair from fair sometime declines,
By chance, or nature’s changing course untrimmed:
But thy eternal summer shall not fade,
Nor lose possession of that fair thou ow’st,
Nor shall death brag thou wander’st in his shade,
When in eternal lines to time thou grow’st,
So long as men can breathe, or eyes can see,
So long lives this, and this gives life to thee.

Vergleich ich dich mit einem Sommertag?
Du hast mehr Maß und größre Lieblichkeit.
Die Maienknospe, die verzärtelt lag,
Schlägt rauher Wind; kurz währt des Sommers Zeit.
Des Himmels Auge brennt manchmal zu heiß,
Sein goldnes Antlitz, oft trübt sich’s für lang.
Und alles Schöne gibt die Schönheit preis,
Sei’s Zufall, sei’s des Wandels kruder Gang.
Doch nie soll deines Sommers Pracht ermatten,
Nie soll zerschleißen deiner Schönheit Kleid,
Nie Tod sich brüsten, daß in seinem Schatten
Du gehst: Im Vers zwingst du die Sterblichkeit.
Solang ein Mensch noch atmet, Augen sehn,
Solang dies steht, so lang wirst du bestehn.

William Shakespeare, Sonett Nr. XVIII
Übertragung: Christa Schuenke
© der Übertragung Straelener Manuskripte Verlag 1994

••• Mit Stefan Georges Übertragung dieses Sonetts konnte meine Frau sich gar nicht anfreunden. Als sie das Original gelesen hatte, meinte sie: So ein schönes Gedicht; und was ist in der Übertragung davon übrig geblieben?

So streng würde ich mit George nicht umspringen wollen. Aber tatsächlich liest sich die Übersetzung von Christa Schuenke da schon ganz anders und fängt, wie ich meine, deutlich mehr von der ursprünglichen Atmosphäre dieses Sonetts ein. Aus diesem Grund hier – speziell für meine Herzdame – das Sonett Nr. XVIII von Shakespeare noch einmal, diesmal übersetzt von Christa Schuenke.

Das böse Kind als alter Mann

Freitag, den 11. Mai 2007

Er hat noch immer diesen Blick
er will noch immer töten
der aus dem Anbeginn der Föten
dem ungeschiedenen Schlick

sich zäh und bös herausgelöst
der langsam, durstig, niemals satt
sich aus dem Ich gerichtet hat
und uns entblößt.

So frei der alte Mann und so allein
so stolz und so erbarmungslos
blieb er erbarmungslos gemieden

und will noch immer keinen Frieden
steht an der Pforte, würgt den Raucherkloß
laut raus. Und rotzt ihn auf den Stein.

© Alban Nikolai Herbst (2007)

••• Für Alban Nikolai Herbst beginnt heute der Countdown. Am morgigen Samstag wird er in der wundervollen Villa des Literarischen Colloqium Am Sandwerder in Berlin zum Finale um den diesjährigen Döblin-Preis antreten. Courage hat er; die muss man ihm nicht wünschen. Was man ihm wünschen kann: eine gute Hand gehabt zu haben bei der Auswahl aus den 1000 Seiten seines Roman-Typoscripts, um die ihm zugestandenen 25 Minuten des Wettlesens zu bestreiten. Und überhaupt: Hals und Beinbruch! So sagt man doch – auf dem Theater. Das sei ihm von Herzen gewünscht.

Aber es war nicht Prosa, über die ich an einem der letzten Tage in seinem Weblog gestolpert bin; nein, es war – ein Sonett.


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Über die Untreue der Weiber

Dienstag, den 8. Mai 2007

Vielleicht würd ich es ihr sogar gestatten
Zu andern Männern sich nach Lust zu legen
Warum nicht etwas Freiheit? Meinetwegen!
Wenn jeder Griff der Fünfminutengatten

Sie nur nicht gleich so sehr verändern würde!
Selbst wenn es gar nicht so besonders glückte
Wenn ihr nur einer mal am Hintern rückte
Spielt sie bestimmt fortan doch die Verführte

Und sehr Geheimnisvolle! Die verschlagen
Den Besserwisser jetzt hereingelegt hat
Da der nicht weiß, und wehe, wenn er’s wüßte!

Daß sie den Hintern damals doch bewegt hat!
Wenn auch nur gegen Ende sozusagen …
Und so entsteht ein Riß, der nicht entstehen müßte.

Bertolt Brecht (1927)

••• Dass ich mich für Sonette von der ersten Begegnung mit ihnen an so sehr begeistern konnte, verdanke ich Brecht. Er schert sich nicht um die Vorgabe der thematischen Aufteilung innerhalb des Sonetts. Und er wagt immer wieder Experimente mit erstaunlicher Wirkung. Wer sagt denn, im Sonett müssten die Sätze oder Nebensätze mit der Zeile enden? Indem er die Sätze um die Zeilenenden und damit auch um die Reime quasi herumfliessen lässt, verschwindet das Getragene, das im Sonett so leicht zum Stolzieren gerät. Nahezu prosaisch klingt Brecht hier – und das inmitten einer strengen Form.

Dem Fluss des Gesagten zum Opfer gefallen ist auch das Reimschema der Terzette. Und doch – spätestens wenn man das Gedicht laut liest, wird klar, dass hier jedes Wort am rechten Platz ist.

Das nenne ich meisterhaften Umgang mit einer strengen klassischen Form! Sie ist da und und wirkt, doch aus dem Hintergrund. Nicht die Spur von Selbstzweck, sondern ganz Mittel zum Zweck.