Gilgamesh
Mittwoch, den 27. Dezember 2006Der lauf der nacht war ein einziger traum
die himmel donnerten die erde warf ihr echo zurück
und da war ich stand dazwischen und noch jemand war da –
ich ahnte ihn mehr als daß ich ihn sah:
Unheimlich war er
ein schwarzer schatten einer von denen keinerlei licht ausgeht
sie schleichen herum verstohlen und gebückt • von ihren klauen
tropft die bittere galle der nacht • nicht mann noch frau
sind sie hören auf kein gebet und keine bitte
sie sind kalt wie der ständig wehende wind kalt
wie der tod der die schale der dinge zerspringen läßt
und zu scherben zerbricht
Die gefolgsleute des todes sind sie
die söhne des sturmgottes und der königin der unterwelt
dem himmel entrissen und auf die erde geworfen
der giftige laich der götter kreaturen die man hoch oben
schreien hört und in der tiefe winseln
Über die dächer
kommen sie und kriechen über die häuser
keine tür vermag sie aufzuhalten kein schloß
sie kommen durch die ritzen wie schlangen durch die fugen
wie der frost
Sie holen sich die frauen aus den armen
des mannes und die kinder von den knien der mütter
und heften sich einem jeden lähmend auf die fersen
Und dann
nahm der ghoul neben mir gestalt an • er glich dem donnervogel
Anzu – seine hände die tatzen eines löwen die fingernägel
die klauen eines adlers • damit griff er mich bei den haaren
Ich schlug auf ihn ein aber er wich meinen hieben aus
er drehte sich unter mir weg ich suchte ihn zu fassen
doch er kam über mich wie die staubigen winde
die sich über die ebenen drehen
Und mit einem mal lag ich
am boden • er trat mir in die rippen und sein geifer
tropfte auf mich herab • ich schrie nach dir Gilgamesh
ich schrie um hilfe doch du konntest mich nicht retten
du warst wie gebannt
Er schlug auf mich ein
plötzlich aber verwandelte ich mich in einen vogel –
er aber fesselte meine arme wie man flügel zusammenbindet
und stieß mich voran auf einen weg ohne rückkehr
durch die sieben ringmauern die die stadt Irkalla umgeben
Er führte mich ins haus des dunkels das keiner wieder verläßt
der seine schwelle einmal überschritten hat:
In dieses haus
wo lehm unser brot ist und wir ein kleid von federn tragen
wie vögel – wo wir im dunkeln leben ohne je das licht
zu sehen
Der staub lag dick wie je auf allen mauern
und das schweigen lastete unendlich schwer darauf
Als ich es zum ersten mal betrat da lagen wohin ich auch sah
kronen im staub kronen die man königen abgenommen hatte
Übertragung: Raoul Schrott
aus: Raoul Schrott: „Gilgamesh“
© Fischer Taschenbuch Verlag 2006
••• Man kann unmöglich von Raoul Schrott sprechen, ohne seine „Gilgamesh“-Übertragung zu erwähnen.
Ich gestehe es gern ein: Bevor mir eine Freundin kürzlich davon erzählte (1000 Dank, liebe Hanna!), war mir das Epos und also auch Schrotts Neuübertragung völlig unbekannt. Welch eine Lese-Lücke!
Raoul Schrotts „Gilgamesh“ ist eine wissenschaftliche Edition. Der rekonstruierte Textkörper wird wiedergegeben. Hinzu kommen eine Fülle von Ausführungen zur Geschichte, zur wahrscheinlichen Entstehung. Doch wie schon in seinem bereits erwähnten Buch „Die Erfindung der Poesie“ liegt für den Literatur-Begeisterten der eigentliche Reiz mehr in der kongenialen Nachdichtung. Schrotts „Gilgamesh“ ist unbedingt mehr als eine Übertragung; ohne seinen Nachdichter könnte dieses Werk kaum in solcher Kraft auf uns wirken.
„Gilgamesh“ ist das älteste sagenumwobene Epos der Menschheitsgeschichte. Für Rilke wie Canetti zählte die Geschichte von Kriegern, Städten und der Suche nach Unsterblichkeit zum „Größten“, was sie je gelesen hatten. Ohne Zweifel gehören die elf zerbrochenen Keilschrifttafeln, die das Epos fragmentarisch überliefern, zu den größten Rätselsteinen unserer Welt.
[vom Umschlagtext der zitierten Ausgabe]