Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Unterm Bett ihre Schuhe

Donnerstag, den 4. Januar 2007

Unterm Bett ihre Schuhe
sie bewahren
die Form ihrer Füße
die Wärme ihrer Füße
sie atmen
Zwei weiße Vögel
mit pechschwarzen Augen
um den Hals
ein Nickelring

Jannis Ritsos, aus: „Kleine Suite in rotem Dur“
Übertragung: Thomas Nicolaou
Verlag Volk & Welt Berlin 1984

Jannis Ritsos••• Da von Griechen die Rede war… – Den Lizenzausgaben des Verlages Volk & Welt verdanke ich einen großen Teil meiner fragmentarischen literarischen Bildung. Diesen Band mit Liebesgedichten von Jannis Ritsos habe ich besonders gehütet. Den deutschen Übertragungen von Thomas Nicolaou stehen Ritsos-Handschriften der Gedichte gegenüber, illustriert mit 24 Steinzeichnungen des Autors.

Auch so ein Buch, das man nicht verleihen darf… Wer Glück hat, findet noch ein gebrauchtes Exemplar auf amazon.de.

entdeckungen an einer frau

Mittwoch, den 3. Januar 2007

Veil - © by DanceArtist

für ksk

jetzt hast du dein geheimnis
abgestreift wie ein verschlissnes kleid
der schneider eilt
er hebt den arm
ein neues anzumessen
ihm fehlt das garn
die nackte stirn
mit schleiern zu verhängen
die nadel sticht
ihn nur ins eigne hirn
wenn er die hände nicht
von seinen augen reißt

so muss er schweigen gehn
und schauen
staunen

© Benjamin Stein (2006)

••• Noch ein Gedicht für meine Frau. Dieses hier ist für sie geschrieben.

Über die Verführung von Engeln

Dienstag, den 2. Januar 2007

Crying angel, lost her wings, cannot fly home.... © Mortus-Phallustein

Engel verführt man gar nicht oder schnell.
Verzieh ihn einfach in den Hauseingang
Steck ihm die Zunge in den Hals und lang
Ihm untern Rock, bis er sich nass macht, stell
Ihn, das Gesicht zur Wand, heb ihm den Rock
Und fick ihn. Stöhnt er irgendwie beklommen
Dann halt ihn fest und lass ihn zweimal kommen
Sonst hat er dir am Ende einen Schock.

Ermahn ihn, dass er gut den Hintern schwenkt
Heiß ihn dir ruhig an die Hoden fassen
Sag ihm, er darf sich furchtlos fallen lassen
Dieweil er zwischen Erd und Himmel hängt –

Doch schau ihm nicht beim Ficken ins Gesicht
Und seine Flügel, Mensch, zerdrück sie nicht.

Bertolt Brecht (1948)

••• Da von Engeln die Rede war, heute ein Gedicht für meine Frau. Engel haben für mich schon immer eine besondere Rolle gespielt. Im „Alphabet“ treten Seraphim – das sind Feuerengel – gehäuft in Gestalt von Frauen auf. Beziehungen mit ihnen sind nicht ungefährlich.

Sagt meine Frau: Was haben die Engel davon, transzendental verehrt zu werden? Ausserdem ist die Gefährdungslage eine ganz andere. Flügel sind so zerbrechlich…

Die gestundete Zeit

Montag, den 1. Januar 2007

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.

Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!

Es kommen härtere Tage.

Ingeborg Bachmann, aus: „Die gestundete Zeit“
R. Piper & Co. Verlag 1957

Die gestundete Zeit.••• Schaut man sich die bislang hier zitierten Autoren an, könnte man meinen, die Männer hätten mir mehr mitzuteilen als die Dichterinnen. Das Gegenteil ist der Fall. Es waren und sind immer wieder vor allem Texte von Frauen, die mich inspirieren und lange Zeit begleiten. In den nächsten Tagen wird das auch auf dem Turmsegler spürbar werden.

Wenn ich Dichterinnen sage, beginnt und endet meine Assoziation mit Ingeborg Bachmann. Zum Neujahrstag sei den Lesern die „Gestundete Zeit“ in Erinnerung gerufen: Es kommen härtere Tage.

Allen Turmsegler-Lesern wünsche ich Gesundheit und gutes Gelingen beim Bestehen der vielen Herausforderungen – und immer genügend Zeit für eine tägliche Dosis Poesie.

Die Büchse der Pandora

Sonntag, den 31. Dezember 2006

Zu bestimmten Zeiten, das könnten die Zwölf Haydnischen Nächte sein, haben unsere Männer, von denen wir im Streit geschieden sind, gewisse Macht über uns. Das dürfen sie nie erfahren. Die möglichen glücklichen Konstellationen werden ihnen verborgen sein, weil sie dergleichen nie zu hoffen wagen und wir ihnen auch in sieben greifbaren Jahren merkwürdig fremd geblieben sind. Die Schrift hier wird ihr übriges tun. Sie an Tagen sicher machen, wo bei uns nichts zu holen ist. Sie werden immer zur falschen Zeit zum Telefonhörer greifen, und das bewirkt, daß wir unserer letzten Liebe wieder treu sind auf Jahre.

Sarah Kirsch, aus: „Drachensteigen“
zu finden in: „Sämtliche Gedichte“
© Deutsche Verlags-Anstalt 2005

Orient Express Werbeplakat••• An einem 31. Dezember – ich glaube, es war 1997 – fuhr ich mit meiner damaligen Lebensgefährtin im historischen Orient Express durchs tief verschneite Bayern. Es hatte minus 25 Grad. Auch in den Waggons war es bitterkalt, die Scheiben dicht zugefroren. Wir kratzten Figuren und zwei kleine Gucklöcher ins Eis und tranken Tee.

Es war eine nostaligische Fahrt. Wir waren im siebten Jahr und bestürzt über die Entfernung zwischen uns. Die Jahresendstimmung, das Ambiente des alten Waggons und die Figuren im Eis machten einen Augenblick, wie Sarah Kirsch ihn beschreibt. Wir hofften mit Brecht:

Der abgerissene Strick kann wieder geknotet werden.
Er hält wieder, aber
Er ist zerrissen.

Der Augenblick währte nur kurz, wie es Augenblicke an sich haben. Es gab einen wehmütigen Abschied, als der Zug nach der Rundfahrt München wieder erreicht hatte. Die Kälte hing uns bitter in allen Gliedern.

Vom geknoteten Strick war später noch manches Mal die Rede. Gehalten hat er nicht.

Die Engel

Freitag, den 29. Dezember 2006

Der Himmel auf tönernen Füßen
Wir fahren darunter in kleinen Autos
Die Brücken
Fangen ihn ab eine Zeit lang
Wird er blau sein, Vögel
Und Nacht und Tag und manchmal
Ein Nordlicht in fremden Breiten
Einer wird, in verwirrenden Farben, ihn sehn
Wenn ihm gut oder nicht ist und der Mond und die Sonne
Hineingeschossene Löcher
Werden kühlen wärmen bis dann
Die letzte Stunde gekommen ist
Und die Engel mit eiskalten Augen
Die großen Blätter auf denen Geschichte verzeichnet ist
Einrollen ein neues
Licht anzünden

Sarah Kirsch, aus: „Landaufenthalt“
zu finden in: „Sämtliche Gedichte“
Deutsche Verlags-Anstalt 2005

Sämtliche Gedichte••• August 1977: Ich fieberte meinem ersten Schultag entgegen. Da verliess Sarah Kirsch mein kleines Land. Ich wusste nichts von ihr.

Erst sieben oder acht Jahre später – Sarah Kirsch hatte gerade den Friedrich-Hölderlin-Preis erhalten und lebte unterdessen in Schleswig-Holstein – raunte Undine Materni mir zu: „Sarah Kirsch ist sowieso die Grösste…“

Ob sie sich daran noch erinnert? Die Grössenverhältnisse wechseln ja mitunter im Laufe der Zeit. – Wie dem auch sei: Ich war damals für diese Gedichte zu jung und habe sie erst viel später für mich entdeckt.

Von der DVA gibt es seit letztem Jahr eine – vorläufige! – Gesamtausgabe der Gedichte von Sarah Kirsch. Beim Blättern sind mir noch zwei andere Texte wiederbegegnet. (Stay tuned!)

Einsamkeit

Donnerstag, den 28. Dezember 2006

Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.

Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:

dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen…

Rainer-Maria Rilke (21. 9. 1902, Paris)
aus: „Die Gedichte“, Insel Verlag 1998

Pusteblumenbrunnen in der Dresdner Prager Strasse••• Wie wir vom Klappentext der „Gilgamesh“-Neuübertragung erfahren haben, war das Epos auch für Rilke eine grosse Inspiration. Da der Name gefallen ist, hier ein weiteres meiner Lieblingsgedichte.

Diese Entdeckung verdanke ich einer Bildhauerin: Leonie Wirth. Die Wasserspiele in der Fussgängerzone der Dresdner Innenstadt wurden von ihr entworfen. Sie schrieb mir – ich glaube um 1987 – einen Leserbrief auf eine Gedichtveröffentlichung in einer Zeitung. Es entspann sich ein kurzer Briefwechsel um bildende Kunst und Literatur. Damals schrieb man noch Briefe. Ich habe sie auch besucht in ihrem Haus bei Dresden, ein Haus voller Katzen und grossen Plastiken aus Glas und Stahl. Man konnte kaum glauben, wie diese zarte Person die gewaltigen Materialien überhaupt bewegen konnte.

Sie lebte sehr zurückgezogen. Ihr Haupt-Engagement – nach meinem Eindruck noch weit vor der Bildhauerei – galt dem Tierschutz. Das Gedicht schickte sie mir nach meinem Besuch. Danach habe ich nichts mehr von ihr gehört. Sie müsste jetzt um die 70 sein. Ich weiss nicht, was aus ihr geworden ist.