Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Beschlagene Scheiben

Freitag, den 3. August 2007

smokey window to my soul © macrocosm12@deviantart
smokey window to my soul © macrocosm12@deviantart

Du wirst den Dämonen
begegnen müssen.
Sie schleichen nicht fort,
wenn du bittest und schreist.

Sie haben gewaltige,
kräftige Arme
und greifen nach dir,
und halten dich klein.
Keine Nacht ohne Pochen
an beschlagenen Scheiben.
Kein Tag vergeht
ohne Angsthauch im Nacken.
Keine Stunde,
in der nicht
der Biss der Gespenster
dir plötzlich ins Innerste reißt.

Du wirst den Dämonen
begegnen müssen.
Sie lassen nur ab,
wenn du weißt.

© Benjamin Stein (2007)

••• Unfertig? Wie das meiste im Leben, wie wir selbst.

Ich hab das Wort vergessen

Sonntag, den 29. Juli 2007

Ich hab das Wort vergessen, das ich sagen wollte.
Ins Schloss der Schatten kehrt die Schwalbe blind zurück
Zerschnittnen Flügels, mit den Durchsichtigen zu spielen.
Im Nichterinnern singt man ein nächtliches Lied.

Die Vögel unhörbar. Die Immortelle blüht nicht.
Die Mähnen durchsichtig der Abendherde dort.
Ein leerer Nachen schwimmt auf trockenen Flüssen.
Unter Heuschrecken tobt erinnerungslos das Wort.

Und wächst sacht an, als wär es Zeltdach oder Kirche
Stößt jäh als wahnsinnige Antigone vorbei
Und stürzt als tote Schwalbe sich zu Füßen
Mit stygischer Zärtlichkeit und einem grünen Zweig.

O brächte man die Scham der sehenden Finger wieder
Und des Erkennens aufgewölbte Freude.
Ich fürchte so die Klage-Aoniden
Den Nebel und das Klaffen und das Läuten.

Doch Sterblichen ist Macht zu lieben und zu wissen
Für sie ists, daß der Klang sich in die Finger goß
Doch was ich sagen wollte, habe ich vergessen
Körperlos der Gedanke kehrt ins Schattenschloß.

Immer verfehlts der durchsichtige, bleich…
Immer die Schwalbe, Antigone, die Freundin…
Doch auf den Lippen brennt wie schwarzes Eis
Erinnerung an das stygische Läuten.

Ossip Mandelstam (1920)
Nachdichtung: Rainer Kirsch

••• Als Beispiel dafür, wie eine Nachdichtung ein nahezu völlig anderes Gedicht erschaffen kann: hier die Übertragung von Rainer Kirsch zum Mandelstam-Gedicht vom letzten Freitag. Obgleich ich bekennender Celan-Fan bin, fällt es mir schwer, seiner Übertragung ganz vorbehaltlos den Vorzug zu geben. Beide Varianten überzeugen mit starken eigene Übertragungsideen. Gerade deswegen war ich froh, in dem erwähnten Band beide Nachdichtungen präsentiert bekommen zu haben.

Das Wort bleibt ungesagt

Freitag, den 27. Juli 2007

Osiip Mandelstam
Ossip Mandelstam (1891-1938)

Das Wort bleibt ungesagt, ich finds nicht wieder,
Die blinde Schwalbe flog ins Schattenheim,
Zum Spiel, das sie dort spielen. (Zersägt war ihr Gefieder.)
Tief in der Ohnmacht, nächtlich, singt ein Reim.

Die Vögel — stumm. Und keine Immortelle.
Glashelle Mähnen — das Gestüt der Nacht.
Ein Kahn treibt, leer, es trägt ihn keine Welle.
Das Wort: umschwärmt von Grillen, unerwacht.

Und wächst, wächst wie es Tempeln, Zelten eigen,
Steht, jäh umnachtet, wie Antigone,
Stürzt stygisch-zärtlich und mit grünem Zweige,
Als blinde Schwalbe stürzt es nieder, jäh.

Beschämung all der Finger, die da sehen,
O die Erkenntnis einst, so freudenprall.
O Aoniden, ihr — ich muß vor Angst vergehen,
Vor Nebeln, Abgrund, Glockenton und Schall.

Wer sterblich ist, kann lieben und erkennen,
Des Finger fühlt: ein Laut, der mich durchquert…
Doch ich — mein Wort, ich weiß es nicht zu nennen,
Ein Schemen war es — es ist heimgekehrt.

Die Körperlose, immer, Stund um Stunde,
Antigone, die Schwalbe, überall…
Wie schwarzes Eis, so glüht auf meinem Munde
Erinnerung an Stygisches, an Hall.

Ossip Mandelstam (1920)
Nachdichtung: Paul Celan

••• Ach, wieder so einen alten DDR-Reclam-Schatz ausgegraben. Von Mandelstam wird noch mehr zu berichten sein. Der Clou an dieser Ausgabe, einer Sammlung von 80 Gedichten aus seinem Gesamtwerk: Viele Gedichte werden neben dem Original in verschiedenen Nachdichtungen präsentiert.

Es ist alles eitel

Mittwoch, den 25. Juli 2007

Du sihst, wohin du sihst, nur Eitelkeit auff Erden.
Was diser heute baut, reißt jener morgen ein:
Wo itzund Städte stehn, wird eine Wisen seyn,
Auff der ein Schäfers-Kind wird spilen mit den Herden;

Was itzund prächtig blüht, sol bald zutretten werden.
Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein,
Nichts ist, das ewig sey, kein Ertz, kein Marmorstein.
Jtzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Thaten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn?
Ach! was ist alles diß, was wir vor köstlich achten,

Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind;
Als eine Wisen-Blum, die man nicht wider find’t.
Noch wil, was Ewig ist, kein einig Mensch betrachten!

Andreas Gryphius (1616 – 1664)

••• Heute klaue ich mal, und zwar beim Bondageprojekt, das hier schon einmal „Auf die Rolle“ genommen wurde und wo man obiges Sonett des grössten deutschen Sonettendichters des 17. Jahrhunderts auch im Podcast anhören kann.

Die Brücken

Montag, den 23. Juli 2007


Bridges 2 – © Casey Toussaint 2007

Des ciels gris de cristal. Un bizarre dessin de ponts, ceux-ci droits,
ceux-là bombés, d’autres descendant ou obliquant en angles sur
les premiers, et ces figures se renouvelant dans les autres circuits éclairés
du canal, mais tous tellement longs et légers que les rives, chargées
de dômes s’abaissent et s’amoindrissent. Quelques uns de ces ponts sont
encore chargés de masures. D’autres soutiennent des mâts, des signaux,
de frêles parapets. Des accords mineurs se croisent, et filent, des cordes
montent des berges. On distingue une veste rouge, peut-être d’autres
costumes et des instruments de musique. Sont-ce des airs populaires, des
bouts de concerts seigneuriaux, des restants d’hymnes publics ? L’eau est
grise et bleue, large comme un bras de mer. – Un rayon blanc, tombant
du haut du ciel, anéantit cette comédie.

Der Himmel kristallines Grau. Ein seltsames Muster von Brücken, die einen gerade, die andern gewölbt, weitere steigen in schiefem Winkel auf die ersteren hinab, und diese Figurationen wiederholen sich in den anderen Umflutgräben, die hell leuchten, doch dermaßen langgestreckt und leicht sind, dass die kuppelbeladenen Ufer absacken und schwinden. Auf einigen dieser Brücken lasten noch Gemäuer. Andere werden von Masten, Signalen und zierlichen Geländern versteift. Mollakkorde kreuzen sich, und ziehen Fäden; Saiten erklimmen die Steilufer. Man erkennt ein rotes Jackett, womöglich auch andere Kleidung, und Musikinstrumente. Sind’s Volkslieder, Stücke aus herrschaftlichen Konzerten, Überreste von Staatshymnen? Das Wasser ist grau und blau, so breit wie ein Meeresarm.– Ein weißer Strahl, der hoch vom Himmel herniederfährt, löscht diese Komödie aus.

Arthur Rimbaud (1854 – 1891)

••• Meine Herzdame hat sich viel Mühe gemacht, um für die spa_tien-Sonderausgabe „Was sind literarische Weblogs?“, die im kommenden Januar als Buch erscheinen soll, interessante Illustrationen zu finden. Sie hat nicht nur im Namen der Herausgeber einen Wettbewerb im Web gestartet, sondern für die Präsentation der Einsendungen eigens ein Blog eingerichtet.

Casey Toussaint hatte zunächst wundervolle farbige Zeichnungen zu Arthur Rimbauds Gedicht „Brücken“ eingesandt. Als ihr bewusst wurde, dass wir Graustufen-Illustrationen benötigen, hat sie sich nochmals hingesetzt und die Serie um sieben weitere Zeichnungen erweitert. Caseys Blog(s) sei(en) Kunstinteressierten wärmstens empfohlen.

Einen lieben Dank an Casey für ihre Einsendung.