Archiv der Kategorie 'Lyrik'

An die Ersehnte

Donnerstag, den 16. August 2007

Gerte

Ich habe dich Gerte getauft, weil du so schlank bist
und weil mich Gott mit dir züchtigen will,
und weil eine Sehnsucht in deinem Gang ist
wie in schmächtigen Pappeln im April.

Ich kenne dich nicht – aber eines Tages
wirst du im Sturm an meine Türe klopfen,
und ich werde öffnen auf dies Klopfen,
und meine zuchtlose Brust wird gleichen Schlages
an Deine zuchtlosen Brüste klopfen.

Denn ich kenne dich – deine Augen glänzen wie Knospen
und du willst blühen, blühen, blühen!
und deine jungen Gedanken sprühen
wie gepeitschte Sträucher an Sturzbächen;
und du möchtest wie ich den Stürmen Gottes trotzen
oder zerbrechen!

Richard Dehmel (1863-1920)

••• Von der Angst vor dem Weiblichen und religiösen Reaktionen darauf war gestern die Rede. Und prompt – es gibt ja keine Zufälle – stosse ich auf ein traumhaftes Gedicht von Richard Dehmel. Wie sich das Ich hier trotzig in das antizipierte Gefürchtete hineinfallen lässt und den Schmerz in Kauf nimmt — das hat und gibt enorme Kraft.

Ulrich Janetzki liest: „An die Ersehnte“

Träges Haar

Mittwoch, den 15. August 2007

A Girl With a Hat by ~borissov@deviantart
A Girl With a Hat — © by borissov@deviantart

ist der hut abgelegt
will das haar
noch lange nicht
zwanglos fallen
verloren schwebt
das medusenhaupt
durch eisige luft
und im blinden spiegel grüßen
dich müde augen und bannen
dein lachen
in stein

© Benjamin Stein (2007)

••• Die Tradition und deren männliche Hüter erwarten von der verheirateten jüdischen Frau, dass sie ihr Haar bedeckt – und zwar vollständig. Die Vorschrift beruht auf einem Nebensatz in der Torah (Bamidbar [Numeri] 4:21-7:89). Aus der Beschreibung der Sotah-Zeremonie, in deren Verlauf der Kohen im Tempel das Haar der vom Ehemann der Untreue verdächtigten Frau löste und so gewissermaßen zur Schau stellte, leitet man(n) ab, dass Haar Symbol und Gegenstand erotischer Anziehung ist und verdeckt werden müsse bei einer Frau, die anderen verboten ist.


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Das elfte Sonett

Dienstag, den 14. August 2007

Als ich dich in das fremde Land verschickte
Sucht ich dir, rechnend mit sehr kalten Wintern
Die dicksten Hosen aus für den (geliebten) Hintern
Und für die Beine Strümpfe, gut gestrickte!

Für deine Brust und für unten am Leibe
Und für den Rücken sucht ich reine Wolle
Damit sie, was ich liebe, wärmen solle
Und etwas Wärme von dir bei mir bleibe.

So zog ich diesmal dich mit Sorgfalt an
Wie ich dich manchmal auszog (viel zu selten!
Ich wünscht, ich hätt das öfter noch getan!)

Mein Anziehn sollt dir wie ein Ausziehn gelten!
Nunmehr ist, dacht ich, alles gut verwahrt
Daß es auch nicht erkalt, so aufgespart.

Bertolt Brecht (1934)

••• Die Herzdame verreist. Und ich will sie doch gut verpackt wissen, wenn sie so ohne mich in die Fremde zieht…


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Kleiner Donnerstagabend

Montag, den 13. August 2007

für Claire

Kleiner Donnerstagabend
Was erwartest du auf dem Platz der Waffen
Unter deinem Schal aus schottischem Schatten?
Der Wind dreht sich um deine Röcke
Der Regen kämmt dein rotes Haar
Ich möchte dir gern ein liebes Wort sagen
Damit du dich nicht so allein fühlst
Am Ufer der Nacht
Aber ich muß abreisen
Die Erde dreht sich und reißt mich mit
Dem Freitag entgegen

Yvan Goll, aus: „Métro de la Mort“ (1934)
Deutsche Nachdichtung: Claire Goll

••• Zum Abschluss der kleinen Reihe zu Yvan Goll noch ein zweites Gedicht aus „Métro de la Mort“ und ebenfalls eines für seine Frau Claire.

Der Wind dreht sich um deine Röcke
Der Regen kämmt dein rotes Haar
Ich möchte dir gern ein liebes Wort sagen

Das spricht mir heute sehr aus dem Herzen.

Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke

Sonntag, den 12. August 2007

Bed in the hospital © bluecode72@deviantart
Bed in the hospital – © bluecode72@deviantart

Der Mann:
Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße
und diese Reihe ist zerfallene Brust.
Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.

Komm, hebe ruhig diese Decke auf.
Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte,
das war einst irgendeinem Mann groß
und hieß auch Rausch und Heimat.

Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust.
Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten?
Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.
Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern.
Kein Mensch hat soviel Blut.
Hier dieser schnitt man
erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß.

Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen
sagt man: hier schläft man sich gesund. – Nur sonntags
für den Besuch läßt man sie etwas wacher.

Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken
sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal
wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.

Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett.
Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort,
Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.

Gottfried Benn, aus: „Morgue“

••• Beim Lesen der „Traumkraut“-Gedichte von Goll fiel mir unmittelbar der Gang durch die Krebsbaracke ein, sicher eines der bekanntesten Benn-Gedichte aus seinem frühen Werk.