Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Morgen schon werdet ihr Staub sein

Donnerstag, den 19. April 2007

Schuhberge im KZ Auschwitz

Wer aber leerte den Sand aus euren Schuhen,
Als ihr zum Sterben aufstehen mußtet?
Den Sand, den Israel heimholte,
Seinen Wandersand?
Brennenden Sinaisand,
Mit den Kehlen von Nachtigallen vermischt,
Mit den Flügeln des Schmetterlings vermischt,
Mit dem Sehnsuchtsstaub der Schlangen vermischt,
Mit allem was abfiel von der Weisheit Salomos vermischt,
Mit dem Bitteren aus des Wermuts Geheimnis vermischt –

O ihr Finger,
Die ihr den Sand aus Totenschuhen leertet,
Morgen schon werdet ihr Staub sein
In den Schuhen Kommender!

Nelly Sachs

••• Gertrud Kolmars Bild vom „Sand in den Schuhen Kommender“ hat Nelly Sachs zu verschiedenen Adaptionen inspiriert. Die vielleicht berühmteste Variation des Themas ist wohl diese hier.

Die Fahrende

Mittwoch, den 18. April 2007

Jerimiah's Shoe © by amelioration@deviantart.com

Alle Eisenbahnen dampfen in meine Hände,
Alle großen Häfen schaukeln Schiffe für mich,
Alle Wanderstraßen stürzen fort ins Gelände,
Nehmen Abschied hier; denn am andern Ende,
Fröhlich sie zu grüßen, lächelnd stehe ich.

Könnt ich einen Zipfel dieser Welt erst packen,
Fänd ich auch die drei andern, knotete das Tuch,
Hängt es auf einen Stecken, trügs an meinem Nacken,
Drin die Erdkugel mit geröteten Backen,
Mit den braunen Kernen und Kalvillgeruch.

Schwere eherne Gitter rasseln fern meinen Namen,
Meine Schritte bespitzelt lauernd ein buckliges Haus;
Weit verirrte Bilder kehren rück in den Rahmen,
Und des Blinden Sehnsucht und die Wünsche des Lahmen
Schöpft mein Reisebericht, trinke ich durstig aus.

Nackte, kämpfende Arme pflüg ich durch tiefe Seen,
In mein leuchtendes Auge zieh ich den Himmel ein.
Irgendwann wird es Zeit, still am Weiser zu stehen,
Schmalen Vorrat zu sichten, zögernd heimzugehen,
Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein.

Gertrud Kolmar, aus: „Gedichte“
Lizenzausgabe Suhrkamp Verlag 1996
© Kösel-Verlag, München 1980

••• Gedichte gibt es, die sind wie Kisten voll Blei, kaum zu heben, ohne den Rücken schmerzhaft zu spannen. So geht es mir mit den Gedichten von Gertrud Kolmar. Doch bei aller Schwere schiesst aus jeder Zeile eine so unbändige Lebenskraft, ein Hunger, ein Durst, unstillbar.

PS: Hat einer der geneigten Leser eine andere Kolmar-Ausgabe zur Hand? Ich bilde mir ein, es müsste Weiher statt Weiser heissen. Und wenn nicht, wäre ich ratlos, was mit Weiser gemeint ist. Für sachdienliche Hinweise wäre ich dankbar.

Verwandlungen

Montag, den 16. April 2007

Gertrud Kolmar

Ich will die Nacht um mich ziehn als ein warmes Tuch
Mit ihrem weißen Stern, mit ihrem grauen Fluch,
Mit ihrem wehenden Zipfel, der die Tagkrähen scheucht,
Mit ihren Nebelfransen, von einsamen Teichen feucht.

Ich hing im Gebälke starr als eine Fledermaus,
Ich lasse mich fallen in Luft und fahre nun aus.
Mann, ich träumte dein Blut, ich beiße dich wund,
Kralle mich in dein Haar und sauge an deinem Mund.

Über den stumpfen Türmen sind Himmelswipfel schwarz.
Aus ihren kahlen Stämmen sickert gläsernes Harz
Zu unsichtbaren Kelchen wie Oportowein.
In meinen braunen Augen bleibt der Widerschein.

Mit meinen goldbraunen Augen will ich fangen gehn,
Fangen den Fisch in Gräben, die zwischen Häusern stehn,
Fangen den Fisch der Meere: und Meer ist ein weiter Platz
Mit zerknickten Masten, versunkenem Silberschatz.

Die schweren Schiffsglocken läuten aus dem Algenwald.
Unter den Schiffsfiguren starrt eine Kindergestalt,
In Händen die Limone und an der Stirn ein Licht.
Zwischen uns fahren die Wasser; ich behalte dich nicht.

Hinter erfrorener Scheibe glühn Lampen bunt und heiß,
Tauchen blanke Löffel in Schalen, buntes Eis;
Ich locke mit roten Früchten, draus meine Lippen gemacht,
Und bin eine kleine Speise in einem Becher von Nacht.

Gertrud Kolmar, aus: „Gedichte“
Lizenzausgabe Suhrkamp Verlag 1996
© Kösel-Verlag, München 1980

••• Gestern war Yom Ha-Shoah, der Gedenktag für die Opfer der Shoah. Gertrud Kolmar wurde 1943 deportiert und kehrte nicht zurück.

Am 3. März 1951 reiht sie das Standesamt Berlin-Schönefelde als „Gertrud Chodziesner, ohne Beruf, ledig, deutscher Staatsangehörigkeit, zuletzt wohnhaft in Berlin-Schöneberg, Speyrer Str. 10“ in die Liste der sechs Millionen ermordeter Juden ein. Unter der Nummer 52095 wird sie für tot erklärt.

Ulla Hahn
aus dem Nachwort der zitierten Ausgabe

Der lebenslange Tag verging

Freitag, den 13. April 2007

Rabindranath Tagore und Mahatma Gandhi

Das Lied, das ich zu singen kam, bleibt ungesungen
Bis zu diesem Tag.

Ich habe meine Tage hingebracht, um Saiten aufzuziehn
An meinem Instrument – und wieder abzunehmen.

Es ist noch nicht die rechte Stunde;
Die rechten Worte sind noch nicht gesagt.
Allein der bittre Schmerz der Wünsche
Ist in meiner Brust.

Noch ist die Blüte nicht geöffnet,
Der Wind nur singt sein Klagelied.

Ich hab Sein Antlitz nicht gesehen,
Noch hab ich seine Stimme sprechen hören,
Ich habe nur die leisen Tritte Seiner Füße
Am Weg vor meinem Haus vernommen.

Der lebenslange Tag verging, Ihm einen Teppich
Auf den Flur zu breiten, doch die Lampe
Ist noch nicht entzündet.
Ich kann ins Haus ihn noch nicht bitten.

Ihm zu begegnen ist mein ganzes Hoffen –
Doch dafür ist die Zeit noch nicht gekommen.

Rabindranath Tagore, aus: „Gitanjali“

••• „Der lebenslange Tag verging, Ihm einen Teppich / auf den Flur zu breiten, doch die Lampe / ist noch nicht entzündet.“ Immerhin, denke ich mir, habe ich schon das Streichholz in der Hand. Es kann nicht mehr lange dauern. Oder doch?

Gitanjali

Donnerstag, den 12. April 2007

Mein Lied hat allen Zierat abgelegt.
Es ist nicht stolz auf Kleid und Putz.
Schmuckstücke würden unsere Einheit stören
Und zwischen Dich und mich sich drängen.
Es könnte leicht in ihrem Klirren
Dein Flüstern untergehen.

In Scham stirbt meine Dichtereitelkeit
Vor Deinem Blick dahin.
Ich saß zu Deinen Füßen, großer Meister,
Gewähre mir das Eine: Einfach und gerade leben,
Wie die Schilfrohrflöte wartet, sich für Dich
Mit Tönen zu erfüllen.

Rabindranath Tagore, aus: „Gitanjali“

Mein Lied berührt nur mit den Spitzen
Seiner ausgestreckten Flügel Deine Füße…

••• Hat es mit dem gerade vergangenen Pessach-Fest zu tun? Mit der Tatsache, dass an dieser Stelle schon des öfteren von Gott die Rede war? Womit auch immer: In den letzten Tagen häufen sich Gespräche über das Thema Gott und Religiosität in modernen Zeiten. So erreichte mich eine sehr freundliche Mail eines Autoren-Kollegen, der seine Sprachlosigkeit bedauert, wenn sein Denken um dieses Thema kreist. Auch mit Michael Perkampus entspann sich das Gespräch um Religiöses. Und heute früh führte mein Wunsch, ein Buch von meinem Busenfreund auszuleihen („The Blind Watchmaker“) zu einer hitzigen Diskussion um den müssigen Grabenkampf zwischen Kreationisten und Atheisten.

Wie es der Zufall will – den es ja womöglich nicht gibt – fiel mir vor zwei Tagen ein Gedichtband in die Hände, den ich viel zu lange nicht durchblättert habe: Das „Gitanjali“, Tagores „Liederbuch zum Lobe Gottes“ (so die wörtliche Übersetzung des Titels).

Tagore ist alles andere als wortlos. Und was mir besonders nahe geht an diesen Gedichten, ist die Betonung einer gewissen Demut, die es nicht nur braucht, um „a Mensch zu seijn“ – wie es das Jiddische ausdrückt – sondern die auch, wie ich meine, eine notwendige Zutat für grosse Dichtung ist.

Ein Genie

Mittwoch, den 11. April 2007

Charles Bukowski

Heute hab ich im Zug einen
genialen Jungen
kennengelernt.
Er war ungefähr 6 Jahre alt,
saß direkt neben mir,
und als der Zug an der Küste
entlangfuhr
sah man das Meer
und wir schauten beide aus dem
Fenster
und sahen das Meer an
und dann drehte er sich
zu mir um
und sagte,
„Das is nich schön.“

Da ging mir das zum
ersten Mal
auf.

Charles Bukowski

••• Gefunden hat dieses Gedicht meine Frau… Das Original ist bei ihr nachzulesen.

Ich weiß warum die Wege…

Freitag, den 30. März 2007

Ich weiß warum die Wege
wenn sie sich losreißen von der Erde
mit den Vögeln spielen.
Mir ist bestens bekannt
wohin der Soldat stirbt
wenn er sein letztes Wort gerufen hat.
Die Bleiknöpfe seines Mantels
werden Zeichen
für das was neu sich vor ihm auftut.
Ein zartes Ästchen Wind
bläst in sein Grab.
Mit riesigen Schwüngen der Rippen
fängt der Soldat die Lufträder ein
die das Blut kreisen lassen zur Verlängerung des Lebens.
Nicht schwer ist auszurechnen
wie oft in der Minute das Herz schlägt des Feindes und des Kriegers.
Ferner sei euch das Mittel entdeckt
zur Erforschung der Himmelsbalkone
in denen das Pendel der sechsten Zeit
irdische Grüße versteckt.
Ich will euch den Weg der Rettung weisen.

Daniil Charms

••• Auf der Suche nach etwas Lustigem wurde ich hierhin geschickt. Da gibt es tatsächlich vieles zum Schmunzeln und Lachen. Und was wähle ich aus?