Archiv der Kategorie 'Lyrik'

das ende der jugend

Dienstag, den 1. Mai 2007

Rauhreif © 2004 by Jost Jahn

es kamen schwarze sommer bald und selten
rote sonnen – wolken waren gelbliches gewüchs
und lang vergeblich glaubte ich noch ich ertrügs
dächt ich mir heitre sommer über meine welten

und letztlich schwände dies mit den oktobern –
doch eines morgens war ein rauhreif in das laub gefressen
und ich erschrak vergaß mich – im vergessen
begann die kalte angst mich zu erobern

seitdem vergesse ich dem winter zu entkommen
versäum die pflicht die jeder tag mir auferlegt:
die sonnen die im sommer rot verglommen

zu bannen in mein wort für spätre zeiten –
schon ist die erde ganz von farben leergefegt
und schwärenhafte träume streifen in den weiten.

Wolfgang Hilbig, aus: „abwesenheit“
© S. Fischer Verlag (1979)

••• Auch vom grossen Dichter aus Sachsen, von dem hier und dort schon die Rede war, ein Sonett…

der tag geht hin in niemandes gewand

Sonntag, den 29. April 2007

Crow Jane © by aleksandra@deviantart.com

der tag geht hin in niemandes gewand
die wälder stehn bedrohlich schweigen dumpf
zu schwach die hand das hirn wie ausgebrannt
von liebe satt und alles denken stumpf

das große wort ging aus sich zu ermorden
die handvoll sterne war zu schnell verbraucht
gedanken kreisen nun in wilden horden
warn kaum idee und sind doch schon verraucht

was ich erdacht starb wirkungslos dahin
doch spreizte sich und gab sich aus für leben
es gab die zeit dem wort nur seinen sinn
und nahm ihn auch und machte es zu sand

der rabe kommt den letzten stoß zu geben
der tag geht hin in niemandes gewand

© Benjamin Stein (1988)

••• Meine erste bewusste Begegnung mit Sonetten hatte ich nicht bei Shakespeare sondern bei Brecht. Ich werde noch Beispiele bringen. Die strenge Form faszinierte mich; und ich wollte sie umgehend selbst erproben. Dieses Sonett war der erste Versuch. Es existieren noch weitere, die ich auch aufgehoben habe. Aber ich fürchte, der erste war auch der gelungenste Versuch.

Eine Änderung habe ich allerdings heute erst vorgenommen: Die letzten 6 Zeilen waren gemäß dem Reimschema auf zwei Terzette aufgeteilt, um der Formvorgabe auch wirklich gerecht zu werden. Das war vielleicht wichtig für einen Erstversuch. Heute darf ich da frei agieren und setze die drittletzte Zeile zum vorangehenden Terzett, wie es thematisch passt.

All dessen müd

Freitag, den 27. April 2007

Tired with all these, for restful death I cry,
As, to behold desert a beggar born,
And needy nothing trimm’d in jollity,
And purest faith unhappily forsworn,
And guilded honour shamefully misplaced,
And maiden virtue rudely strumpeted,
And right perfection wrongfully disgraced,
And strength by limping sway disabled,
And art made tongue-tied by authority,
And folly doctor-like controlling skill,
And simple truth miscall’d simplicity,
And captive good attending captain ill:
Tired with all these, from these would I be gone,
Save that, to die, I leave my love alone.

All dessen müd, nach Rast im Tod ich schrei.
Ich seh es doch: Verdienst muß betteln gehn
Und reinste Treu am Pranger steht dabei
Und kleine Nullen sich im Aufwind blähn
Und Talmi-Ehre hebt man auf den Thron
Und Tugend wird zur Hure frech gemacht
Und wahre Redlichkeit bedeckt mit Hohn
Und Kraft durch lahme Herrschaft umgebracht
Und Kunst das Maul gestopft vom Apparat
Und Dummheit im Talar Erfahrung checkt
Und schlichte Wahrheit nennt man Einfalt glatt
Und Gutes Schlechtesten die Stiefel leckt.
All dessen müd, möcht ich gestorben sein,
Blieb nicht mein Liebster, wenn ich sterb, allein.

William Shakespeare, Sonett Nr. LXVI
Übertragung: Christa Schuenke
© der Übertragung Straelener Manuskripte Verlag 1994

••• Das Urteil von Literatur-Kritik, -wissenschaft und -betrieb war schon immer unfehlbar. Im Nachwort des zitierten Bandes gibt Manfred Pfister einen Abriss über die wechselvolle Rezeptionsgeschichte, die Shakespeares Sonette durchlebten, bevor sie schliesslich zu einer festen Grösse in der Weltliteratur erhoben wurden.

Zunächst verschwanden die Sonette in der Versenkung des öffentlichen Desinteresses. Im Jahre 1640 besorgte John Benson eine „normalisierte“ Ausgabe. „Normalisiert“ wurde dabei das Geschlecht des sweet boy. Aus dem Liebsten wurde also eine Liebste gemacht, damit die Briten nicht mit einem bi- wenn nicht gar homosexuellen Nationaldichter dastehen müssten. Am besten aber ist die Anmerkung des Herausgebers der Shakespeare-Werke George Steevens, der den Verzicht auf den Abdruck der Sonette in seiner Werkausgabe 1773 wie folgt begründet:

Wir haben die Sonette Shakespeares nicht nachgedruckt, weil auch das strengste Parlamentsgesetz nicht reichen würde, ihre Lektüre zu erzwingen. Hätte Shakespeare nichts anderes als sie geschrieben, er wäre so ruhmlos geblieben wie Thomas Watson, ein älterer und viel eleganterer Sonettdichter als er.

Warum fehlt meinem Vers moderner Schick?

Donnerstag, den 26. April 2007

Why is my verse so barren of new pride,
So far from variation or quick change?
Why with the time do I not glance aside
To new-found methods and to compounds strange?
Why write I still all one, ever the same,
And keep invention in a noted weed,
That every word doth almost tell my name,
Showing their birth and where they did proceed?
O, know, sweet love, I always write of you,
And you and love are still my argument;
So all my best is dressing old words new,
Spending again what is already spent:
For as the sun is daily new and old,
So is my love still telling what is told.

Warum fehlt meinem Vers moderner Schick,
Erfindungsreichtum, Spannung, frischer Schwung?
Was schreib ich nicht, wie jeder heut, mit Blick
Auf rare Wörter, Stilerneuerung?
Was schreib ich bloß dasselbe früh und spät,
Beschreib den alten Hut auf alte Art,
Daß meinen Namen jedes Wort verrät
Und willig, wo es herkommt, offenbart?
Weil: liebster Freund, ich schreib allein von dir;
Liebe und du sind stets mein Gegenstand,
Den alten Wörtern leih ich neue Zier,
Verwende neu, was schon so oft verwandt.
Neu steigt die alte Sonne stets, wenn’s tagt.
Neu meine Liebe Altgesagtes sagt.

William Shakespeare, Sonett Nr. LXXVI
Übertragung: Christa Schuenke
© der Übertragung Straelener Manuskripte Verlag 1994

Shakespeare Sonette - Straelener Manuskripte Verlag••• Um über Shakespeares Stücke zu schreiben, muss ich erst einmal tief Luft holen und mich bedenken. Vielleicht wird es mir gar nicht gelingen. Da lasse ich mich einmal überraschen. Aber wenn wir schon bei Shakespeare sind, ist mir dies willkommener Anlass, auf ein Thema zu kommen, das ich mir schon lange im Turmsegler aufgefächert wünsche: Sonette.

Ich habe eine illustre Sammlung zusammengetragen, die ich den Turmsegler-Lesern nicht vorenthalten möchte. Und für einen Moment durchzuckte mich heute sogar der Gedanke, die vielen selbst schreibenden Leser dieses Blogs zu Sonetten anzustiften. Aber eins nach dem anderen. Erst einmal – doch nicht nur einmal – Shakespeare. Und dann wollen wir weiter sehen.

Was ist ein Geist?

Mittwoch, den 25. April 2007

Was ist ein Geist?
Ein schreckliches Ereignis
das dazu verdammt ist
immer und immer wieder stattzufinden
Ein Augenblick des Schmerzes vielleicht
Etwas Totes, das für einen Moment
zum Leben zu erwachen scheint
Ein Gefühl, das in der Zeit erstarrt ist
Wie eine unscharfe Fotografie
Wie ein in Bernstein gefangenes Insekt
Ein Geist, das ist es, was ich bin.

Alfred Tennyson, Canto Nr. 28
aus: „In Memoriam“

Alfred Tennyson auf wikipedia.de••• Wieder einmal ist es spät geworden. Der Film heute abend versprach nicht eben, poetisch zu sein: „The Devils Backbone“ von Guillermo del Toro. Und wieder einmal wird in einem Film ein Gedicht zitiert, das mir nicht aus dem Kopf gehen will. Glücklicherweise waren Autor und Werk im Abspann vermerkt. Vielleicht hat jemand den Originaltext zur Hand und ist so freundlich, ihn in die Kommentare zu stellen. Ich habe das Gedicht lediglich von der Aufnahme transkribiert und keine Ahnung, wie der Text im Original aufgeteilt und interpunktiert ist.

Zum vierten Male teilst du mir mit

Montag, den 23. April 2007

Zum vierten Male teilst du mir mit
Daß du alle Brücken hinter dir verbrannt hast
Alle Briefe vernichtet, alle Behauptungen zurückgenommen hast
Dich in einem Taumel des Neuen befindest und
Diesmal endgültig.
Lieber hätte ich von dir gehört, du seist
Neuem auf der Spur, brauchtest aber Zeit
Seist gut gelaunt und freuest dich
Deiner guten Beziehungen.
Denn so sehe ich dich nur bald wieder
Am Bau neuer Brücken, Sammeln von Briefen und Aufstellen von Behauptungen
Müdigkeit des Alten, und wieder nicht endgültig.

Bertolt Brecht

••• Ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum mir dieses Gedicht heute in den Sinn kam. Ausgerechnet heute. Ich habe keine Ahnung.

Mädchen

Sonntag, den 22. April 2007

Ich will in meinem Bette ruhn und die Erde bedecken
Über den Ländern Europas und Afrikas liege ich da.
Meinen linken Arm will ich tief hinein nach Asien strecken.
Und den rechts nach Amerika.
Mein schlängelndes Haar wird im Nordmeer den Alk erschrecken.

Zischende Augen will in das weiche Dunkel ich bohren
Wie farbigen Stahl, der die kühle Haut verglüht und zerreißt,
Mit meiner Nacktheit leuchten dem, der die Straße verloren,
Der meine Stätte ungewiß suchend umkreist,
Und mich mit Schweigen verkleiden vor brüllenden Kehlen, versiegelten Ohren.

Mein bleiches Kissen: Eisberg, den Nacht umflutet.
Ich schmelze ihn hin mit dem Tropenstrauß meiner Hand,
Mit Irisblüten, golden und braunrot durchblutet;
Graubläuliche Otter hält sie leicht wie ein Band,
flüstert Wunder mir zu, die sie weiß und vermutet.

Und ein Wunder ist dies: es spritzen feurige Funken
Aus der Glut. Den Himmel brennt Mondnarbe, Sternenmal.
Und der Erde gereiftes Brot wird verteilt, ihr Wein wird getrunken.
Wasser scheint immer noch zart und wallend und fahl,
Hegt den stummen mächtigen Hai und das Läuten gelbbauchiger Unken.

Düster und Strahl sind um mich. So sind sie gewesen,
Da der Ägypter den Königen steinerne Gräber getürmt,
Noch die Sibylle ihre verkohlten Bücher gelesen,
Da erzürnte Harpyien das Mahl des Phineus umstürmt.
Da Juda die Götzenhäuser gefegt mit glänzendem Besen.

Nun verbergen Menschen die Bläue mit speienden Schloten,
Fürchten das Erdgespenst nicht mehr, den klagenden Wolf,
Schirren die Luft und fahren in steigenden Booten
Über Woge und Welt, spielen Tennis und Golf
Und schlafen dann hundert Jahre unter den Toten.

Wie der Sand, wie Flamme und Fluten, so unabwendlich,
Wie Wolke, so unentrinnbar bin ich.
Einst ziehen Kindesgeschlechter, fern mir und nicht mehr verständlich,
Horizonthin, versunkenen Sonnensterns blutheller Strich.
Mein Tag hat sein Maß, doch meine Nacht ist unendlich.

O Männer. Ihr mögt mit Maschinen rasen, tausend elektrische Lampen entzünden,
Ihr schwächt nicht die Faust, die euch zu mir reißt.
Mein Weiher und tiefes Lächeln liegt zwischen dämmrigen Schlünden,
Erwartet still euren neuesten, schwächlich geblähten, unbeständigen Geist
Und wirft eine Welle aus seinem Schoß; sie schluckt ihn samt seinen Gründen.

Kommt ihr mit tanzenden Tieren, mit dem Scherenschleifrad zur Stadt,
____seid Bürger, seid Grafen,
Füße laufen wie schneeweiße Ratten euch nach,
Laufen immer: Füße kupferhaariger Nächte im Hafen,
Wenn euer Schiff die grüne schaumkrallige Pranke zerbrach,
Sie lassen euch unter dem Südlichen Kreuz, dem Großen Wagen nicht einsam schlafen.

Die Liebkosung eurer Lippen, Gier eurer Hände
Sammle ich ein, und die Freude, die aus euren Augen schlägt,
In ein seidenes Vogelgarn, das ich trage an meiner Lende,
Wie das Känguruh seinen Beutel trägt.
Und ich füge die glühenden Stunden und finstere zu funkelnder Spende.

Goldflossige Fische schwimmen, lautlose Kiemen, in Bütten,
Die meine weiten Abende sind.
Und der Kometenregen will alles dies achtlos verschütten
Über ein Kind.
Es ist zart und ewig und nur wie die bräunlichen Kleinen schindelgedeckter Hütten.

Gertrud Kolmar, aus: „Gedichte“
Lizenzausgabe Suhrkamp Verlag 1996
© Kösel-Verlag, München 1980

••• Noch einmal Gertrud Kolmar mit einem Gedicht, das wohl am besten illustriert, was ich zuvor über sie schrieb. Seit Minuten klingt mir Patricia Kaas aus dem musikalischen Gedächtnis mit ihrer Interpretation von „It’s a Man’s World“.

This is a man’s world
This is a man’s world
But it would be nothing
Nothing without a woman or a girl

You see man made the cars
To take us over the world
Man made the train
To carry the heavy load
Man made the electric lights
To take us out of the dark
Man made the bullet for the war
Like Noah made the ark
This is a man’s man’s, man’s world
But it would be nothing
Nothing without a woman or a girl