Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Wer klopft?

Donnerstag, den 19. Juli 2007

Und dann die Freude:
zu wissen die Drohung
und doch zu dauern.

Eugène Guillevic (1907 – 1997)

Eugène Guillevic••• Das Heft 3/2007 von „Akzente“ ist eine Jubilarausgabe: Gerhard Meier (90. Geburtstag, unveröffentlichte Briefe), Oskar Pastior (es wäre der 80. gewesen, mit „Fünf Intonationen zu Les Chats von Baudelaire“), Paul Wühr (80. Geburtstag, mit einem Prosaauszug) – und Eugène Guillevic, der in diesem Jahr 100 geworden wäre. Von ihm bringt Herausgeber Michael Krüger in diesem Heft einen nachgelassenen Zyklus unter dem Titel „Wer klopft?“

Die Gedichte von Guillevic – auch so ein Buch, das ich nie selbst besessen habe. Geliehen hat mir seine Gedichte der Komponist Lothar Voigtländer, den ich noch als Teenager in Berlin kennenlernen durfte. Das letzte Treffen mit ihm in München liegt leider schon 10 Jahre zurück, aber die Erinnerung an sein Studio, seine „klassischen“ und elektroakustischen Kompositionen und natürlich die Gespräche über Dichtung sind mir noch sehr gegenwärtig, insbesondere jene über Guillevic, den er wiederholt vertont hat.

Guillevic ist so etwa der Gegenpol des magischen Realismus. Die Surrealisten blieben ihm fremd, ein merkwürdiges „Pariser Phänomen“. Seine Dichtung ist unartifiziell, schlicht, doch immer tief und nachsinnend.

Wer klopft? fragt Guillevic in diesem Spätwerk und antwortet im Motto des Zyklus mit einem eigenen früheren Vers:

Man klopft.
Man wird immerzu
An die Wände der Höhle klopfen.

Reisen

Mittwoch, den 18. Juli 2007

Departures

Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?

Meinen Sie, aus Habana,
weiß und hibiskusrot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot?

Bahnhofstraßen und Ruen,
Boulevards, Lidos, Laan –
selbst auf den Fifth Avenuen
fällt Sie die Leere an –

Ach vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.

Gottfried Benn

••• Meine Liebste wird bald verreisen. Ohne mich. Ganz allein (hoffentlich, wenn schon ohne mich). Ich wäre jetzt auch gern auf Reisen, nur mit ihr. Ich erinnere mich gern an unseren letzten Urlaub ohne Kinder auf Elba. Nun ja, unsere Tochter war schon dabei als gewölbter Bauch. Vor meinem inneren Auge die Anzeigetafel möglicher Destinationen.

Ach, wenn wir schon bei Benn sind: Einen kleinen Abriss über „Gottfried Benn in Briefen und Werken“ habe ich heute im Web entdeckt. Seine Zeilen erhellen ein wenig die Umstände der „Blauen Stunde“, die hier letztens zitiert wurde.

Mein letzter Kranz

Sonntag, den 15. Juli 2007

Was blumengeschmückt ist, das mögen auch die Götter gerne anschauen, ihr Blick wendet sich ab, wenn jemand ohne Kranz naht.

Sappho

••• Sie ist da, die Ausgabe 4 von spa_tien. Sichtung und Auswahl der Texte, Redaktionskonferenzen per Skype etc. etc. – das alles hat mir grossen Spass gemacht, den beiden Mitübeltätern Hartmut Abendschein und Markus A. Hediger wohl nicht minder.

Kultig in diesem Heft ist sicher der Sonettenkranz von Hartmut Abendschein. Markus und ich haben diverse Überredungskünste aufwenden müssen, dem Autor die Veröffentlichungserlaubnis zu entringen. Doch wir waren erfolgreich.


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Blaue Stunde

Dienstag, den 10. Juli 2007

I
Ich trete in die dunkelblaue Stunde –
da ist der Flur, die Kette schließt sich zu
und nun im Raum ein Rot auf einem Munde
und eine Schale später Rosen – Du!

Wir wissen beide, jene Worte,
die jeder oft zu anderen sprach und trug,
sind zwischen uns wie nichts und fehl am Orte:
dies ist das Ganze und der letzte Zug.

Das Schweigende ist so weit fortgeschritten
und füllt den Raum und denkt sich selber zu
die Stunde – nichts gehofft und nichts gelitten –
mit ihrer Schale später Rosen – Du.

II
Dein Haupt verfließt, ist weiß und will sich hüten,
indessen sammelt sich auf deinem Mund
die ganze Lust, der Purpur und die Blüten
aus deinem angestammten Ahnengrund.

Du bist so weiß, man denkt, du wirst zerfallen
vor lauter Schnee, vor lauter Blütenlos,
totweiße Rosen, Glied für Glied – Korallen
nur auf den Lippen, schwer und wundengroß.

Du bist so weich, du gibst von etwas Kunde,
von einem Glück aus Sinken und Gefahr
in einer blauen, dunkelblauen Stunde
und wenn sie ging, weiß keiner, ob sie war.

III
Ich frage dich, du bist doch eines andern,
was trägst du mir die späten Rosen zu?
Du sagst, die Träume gehn, die Stunden wandern,
was ist das alles: er und ich und du?

«Was sich erhebt, das will auch wieder enden,
was sich erlebt – wer weiß denn das genau,
die Kette schließt, man schweigt in diesen Wänden
und dort die Weite, hoch und dunkelblau.»

Gottfried Benn (1950)

••• Dieses Gedicht von Gottfried Benn kannte ich noch nicht und stiess nur darauf, weil jemand via Google „benn blaue stunde“ suchte und bei meiner „blauen stunde“ landete. Beinahe beängstigend, es kommt mir vor wie ein Dialog – bis ins Motivische hinein, wobei man nicht weiss, wer eröffnet, wer geantwortet hat…

An Anna Blume

Montag, den 9. Juli 2007

Kurt Schwitters: An Anna Blume

Dies ist eine Probe aus dem schönen Buche „Anna Blume“ von Kurt Schwitters. Es ist in allen Buchhandlungen vorrätig. Jeder Gebildete sollte es besitzen. Mk. 4.80

••• So plakatiert an einer Litfaßsäule in Hannover. Eine Weile her ist das freilich schon. Man stelle sich das heute als Werbespot im Fernsehen vor.


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Seht, so ward ich ein Hund

Sonntag, den 8. Juli 2007

Nun, wahrhaftig, nimmer verhehl ich es:
der Zustand hat etwas Unausstehliches!
Mein ganzes Wesen – vom Ingrimm zerfressen.
Ich mopse mich so, wie es wenige treffen;
wie ein Hund auf den Glatzkopf-Vollmond, besessen –
möcht ich hingehn,
die Welt anheulen, kläffen…

Sicher – die Nerven, gehn mir an die Nieren…
Will bißchen ausgehn,
umherspazieren.
Doch ach, keine Spur, daß die Straße mich entspannte.
Ruft irgendeine Dame rüber „Gutenabend“,
muß ich erwidern.
Sie ist eine Bekannte.
Ich wills.
Ich fühls.
Und kann nicht menschlich mich gehaben.

Was soll das? unerhört!
schlaf ich? bin ich geistesgestört?
Ich betaste mich rings,
meine Brust, jede Rippe.
Kinn und Nase – am gewohnten Sitz.
Da berühr ich den Mund –
und –
über der Lippe
ragen mir Eckzähne spitz!

Rasch bedeck ich die Schnauze,
wie wenn ich mich schneuze.
Potzblitz!
Hals über Kopf nach Hause,
statt eines Schritts
mache
ich zwei.
Vorsichtig im Bogen um die Sicherheitswache –
gellt ein Schrei: „Polizei! –
ein Schweif!“
Ich lang nach hinten – und glatt
bin ich platt!
denn was sind alle Reißzähne im Vergleich dagegen!
Bei meiner Galoppflucht entging mir ganz
mein unterm Rockschoß
verlängerter Steißbeinsegen,
mein hintenauf geringelter,
gar nicht kleiner, sehr gemeiner
Hundeschwanz!

Was nun weiter?
Jemand schrie, worauf ein Hauf sich sammelte;
schnell war ein Auflauf zusammengehäufelt,
ein Mütterchen erdrückt –
sich bekreuzigend stammelte,
kreischte etwas von einem geschwänzten Teufel.

Als dann borstensträubend,
im Begriff, zu vertieren,
die Menge mich anfiel,
bös, riesenhaft, grau –
da stand ich mit einemmal
auf allen vieren
und bellte regelrecht:
„wau! wau! wau!“

Wladimir Majakowski (1915)

••• Eigentlich hätte ich – der Vollständigkeit des Panoramas wegen – doch auch einen Revolutionsmarsch von Majakowski bringen sollen. Den „Linken Marsch“ etwa, den wir in der Schule rezitieren mussten (und gern rezitierten). Aber das bringe ich nicht über mich. In der Begeisterung für die Revolution, das Neue, das Andere, fletscht doch die Blutrünstigkeit ihre Zähne. Wenn von Revolutionen die Rede ist, riecht es auch nach Mord.


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Einige Worte über meine Frau

Freitag, den 6. Juli 2007

Four Rooms

Über unbekannter Meere Uferzargen
spaziert die Mondfrau –
meine Frau.
Meine Geliebte, sie, die Rothaarfüchsin.
Der Equipage
folgt schreiend der Gestirne Schar, die wunderbar
geschmückt ist.
Sie läßt sich trauen von der Autogarage,
sie küßt sich flüchtig mit den Zeitungskiosken,
der Schleppe Milchstraße ist vom blinzelnden Pagen
verziert mit blitzenden Flitterbroschen.
Und ich?
Es brachte dem Gebrannten doch das Joch der Brauen
aus Augenbrunnen eiskalte Eimer.
In Seeseiden hingst du, in schäumenden Auen,
deine Hüften sangen, Bernsteingeigen?
Ins Gebiet der Dächerbosheit
wirfst du nicht deine flimmernden Sehnen.
In den Boulevards versinke ich, von der Schwermut der Sande umweht:
es ist doch deine Tochter –
mein Lied
im Netzstrumpf
neben den Cafés!

Wladimir Majakowski (1913)

••• Code Message: Die neue Farbe passt gut zu den Bernsteingeigen. Beim „blinzelnden Pagen“ fiel mir natürlich obiger Page ein. Und bei den letzten Zeilen fühlte ich mich ganz in diese Szene versetzt.