Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Mohn und Gedächtnis

Sonntag, den 25. November 2007

Mohn - © Adsy Bernart 2007

Mohn – © Adsy Bernart 2007

DIE Hand voller Stunden, so kamst du zu mir – ich sprach:
Dein Haar ist nicht braun.
So hobst du es leicht auf die Waage des Leids, da war es schwerer als ich…

Sie kommen auf Schiffen zu dir und laden es auf, sie bieten es feil auf den Märkten der Lust –
Du lächelst zu mir aus der Tiefe, ich weine zu dir aus der Schale, die leicht bleibt.
Ich weine: Dein Haar ist nicht braun, sie bieten das Wasser der See, und du gibst ihnen Locken…
Du flüsterst: Sie füllen die Welt schon mit mir, und ich bleib dir ein Hohlweg im Herzen!
Du sagst: Leg das Blattwerk der Jahre zu dir – es ist Zeit, daß du kommst und mich küssest!

Das Blattwerk der Jahre ist braun, dein Haar ist es nicht.

Paul Celan, aus: „Mohn und Gedächtnis“
© Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart (1952)

••• Seit Wochen geht mir diese Zeile im Kopf umher:

… und ich bleib dir ein Hohlweg im Herzen!

Und heute war sie schliesslich der Ausgangspunkt für ein „Selbstporträt als Seraph“. Das freilich hat mit dem Thema des obigen Gedichtes gar nichts zu tun. Aber ich wollte das Gedicht doch bringen, schon um mich selbst später daran zu erinnern, woher der Hohlweg kam.

Das „Selbstporträt“ kann hier erst bringen, wenn ich es noch ein wenig „durchgeatmet“ habe.

letzter abschied

Dienstag, den 20. November 2007

Wave - © 2006-2007 by abrokenpuppet@deviantart.com
Wave – © 2006-2007 by abrokenpuppet@deviantart.com

beim sinken der hand
was uns künftig verbindet
erwacht die trauer

© Benjamin Stein (2007)

••• Vermessen, nach einem so wunderbaren Haiku wie dem von Masaoka Shiki mit einem eigenen Haiku zu kommen. Abschiede – dieses Thema hat mich schon immer sehr beschäftigt. Allzu oft markieren sie die scharfen Bruchkanten in einer Biographie. Und oft geht es nicht ohne Trauer ab. Auch bleibt von dem, der geht, immer etwas zurück – wie auch bei dem, der geht, etwas bleibt von dem, der zurückblieb.

weeping willow

Dienstag, den 20. November 2007

Masaoka Shiki
Masaoka Shiki

At our last parting
bending between
boat and shore . . .
That weeping willow

Masaoka Shiki (1866-1902)

Beim letzten Abschied
beugt sich über
Boot und Steg . . .
die Trauerweide

••• Aus dem Moleskine der Herzdame wächst heute eine Trauerweide. Und dazu bringt sie einen Haiku von Masaoka Shiki, dem Erneuerer der japanischen Dichtkunst. Je länger man diese wenigen Worte auf der Zunge schmeckt, desto mehr Facetten der Bedeutung treten hervor. Und besser als an diesem Gedicht kann man kaum zeigen, was Masaokas Kritik an der klassischen japanischen Dichtung ausmacht.


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Bemitleid dieses untier, unmenschheit

Donnerstag, den 15. November 2007

pity this busy monster, manunkind,

not. Progress is a comfortable disease:
your victim (death and life safely beyond)

plays with the bigness of his littleness
– electrons deify one razorblade
into a moutainrange; lenses extend

unwish through curving wherewhen till unwish
returns on its unself.
A world of made
is not a world of born – pity poor flesh

and trees, poor stars and stones, but never this
fine specimen of hypermagical

ultraomnipotence. We doctors know

a hopeless case if – listen: there’s a hell
of a good universe next door; let’s go

e. e. cummings (1943)

bemitleid dieses untier, unmenschheit,

nicht! Fortschritt ist ’ne seuche, die bequem:
dein opfer (tod und leben fest entfernt)

spielt mit der größe seiner winzigkeit
– vergöttern elektronen eine klinge
zur bergkette; und linsen dehnen aus

unwunsch durch krümmen von wo-wann, bis unwunsch
sein unselbst wiederhat.
Die welt der mache
ist nicht die welt des zeugens – armes fleisch

und stern, baum, stein bemitleid, aber nie
dies feine beispiel hypermagischer

ultraomnipotenz. Als ärzte sehn wir:

ein hoffnungsloser fall … hör: nebenan
ist eine höllisch gute welt. Los, gehn wir

e. e. cummings (1943)
Deutsch von: Gisbert Kranz
aus: „Englische Sonette“
© Philipp Reclam jun. Stuttgart 1981

••• Vor einigen Tagen stand wieder eine Bücherkiste vor der Tür des Antiquitätengeschäfts unten im Haus. Ich habe zwei dieser kleinen orangefarbenen Reclam-Bändchen vorm Tod durch den Regen bewahren können. Über beide Funde habe ich mich sehr gefreut. Denn das eine Büchlein ist eine zweisprachige Ausgabe von Christopher Marlowes „Edward II“ (von Marlowe, Shakespeares Zeitgenossen, habe ich noch nichts gelesen und brenne darauf, das nun nachzuholen); das zweite trägt den Titel „Englische Sonette“ und enthält ganze 92 davon, im Original und sehr gelungenen deutschen Nachdichtungen von Gisbert Kranz präsentiert.


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Termin am Mittag

Mittwoch, den 14. November 2007

Raymond Queneau
Raymond Queneau

••• Dass ich Raymond Queneaus „Stilübungen“ wiedergefunden habe, freut mich so ungemein, dass ich nicht wiederstehen konnte, auch eine Variation auf das Thema zu schreiben.

Und wenn wir schon dabei sind, denke ich mir, dann sollte ich die hier mitlesenden Autoren einladen, in ihren jeweils eigenen Stilen und Sichten das gleiche zu tun. Über zehn zeilen von Sudabeh würde ich mich ebenso freuen wie über eine Mandrake-Variante von Markus (quasi schon im Flieger nach Brasilien), eine surreale Sequenz von p.-s Veranda, ein satirisches Prosagedicht vom Herrn H, etwas in strengstem Versmasse vom ANH – oder oder oder…

Wer auch immer Lust hat, sich an dem Spass zu beteiligen, ist herzlich eingeladen, eine entsprechende Version bei sich im Weblog zu bringen und es die Turmsegler wissen zu lassen.

Und hier ist sie – meine Variante der Begebenheit im Bus S…


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