Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Sujata Bhatt in Akzente

Donnerstag, den 23. August 2007

Selbstbildnis mit blauem, weiß gestreiftem Kleid
1906

Schon das Kleid allein
läßt uns an Sommer denken
.in Frankreich –
an Picknicks in der Bretagne –

Den blauweißen Duft
.des Atlantiks –

Die rechte Hand an meinem Kinn.
Nicht zur Faust geballt.
Die Finger sind ausgestreckt –
ganz leicht berühren sie mein Kinn –
.Ganz leicht nur –
Ich bin nicht müde.

Kannst du denn nicht sehen,
wie ernst ich es meine, Rodin?

Stell dir vor, so was würde
.ich zu ihm sagen.

Ja, würde er sagen, zu ernst
für eine Frau.
Nein würde ich antworten, ich muß es
ernster meinen als ein Mann.

Die Sonne brennt auf mein Kleid
.und läßt es nur noch stärker
strahlen – doch ich steh abseits
und schweige – ich will es so,
.allein sein.

© Sujata Bhatt (2007)
aus dem Zyklus: „Paula Modersohn-Becker“
Aus dem Englischen von Michael Augustin
in: „Akzente“ 4/2007, Hanser Verlag

••• Sujata Bhatt wurde 1956 in Ahmedabad (Indien) geboren. Sie wanderte 1968 mit ihrer Familie in die Vereinigten Staaten aus. Gegenwärtig lebt sie mit ihrem Mann, dem deutschen Autor Michael Augustin, und ihrer Tochter in Bremen. Obgleich fern des Geburtslandes, ist sie heute eine der bekanntesten zeitgenössischen Dichterinnen Indiens.


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die wüsten kammern

Mittwoch, den 22. August 2007

Bat - © by Edward Gorey

Bat – © by Edward Gorey

nun saugt die fledermaus
an deinem puls
und spreizt die flügel
und ihr herr geht
ganz mondän
in leder eingeschnürt
die wüsten kammern
deines schlosses ab
er atmet tief und haucht
ein rauhes raunen
in die mauerritzen
im kerzenwiderschein
erkennt er sich
als schemen an der wand
kein spiegelbild
ein schatten nur
der sich verzerrt und flieht
sobald die dämmerung
aus deinen augen
steigt

© Benjamin Stein (2007)

Verdrängte Schatten

Dienstag, den 21. August 2007

cigarette - © 2004-2007 by ~5tellaWasADiver@deviantart.com

cigarette — © 2004-2007 by ~5tellaWasADiver@deviantart.com

mit einer zigarette taucht am abend
die traurigkeit der kindheit wieder auf
aus der erinnerung entsteigen narbend
gehüllt in rauch verdrängte schatten auf
zerfließen langsam malen an die wand
das bild des baums vorm haus: dem wind sich neigend
das mählich sich verzerrt und aus ihm steigend
erreicht im dunkel mich dann deine hand
die tröstend harte und sie will nicht weichen
beharrlich bleibt sie läßt nicht ab von mir
und wiederholt der liebe kalte zeichen
wie du mich einst ertrugst in dir und mir
das leben gabst: mit schmerz – gerade so
ruft mich dein schatten fort ins nirgendwo

© Benjamin Stein (1988)

••• Das ist eines der Gedichte, bei denen ich mir über die Jahre immer unsicher war, ob es nicht doch lieber zu vernichten sei. Das letzte Terzett schien mir immer misslungen, aber man kann, wenn so ein Text einmal „ausgeatmet“ ist, nicht ohne weiteres den Schluss durch einen anderen ersetzen. Das wäre mir – wunderlich vielleicht – doch unehrlich erschienen.

Nun, ich habe es trotz der Bedenken aufgehoben, möglicherweise weil es die Brücke zum Motiv des bei lebendigem Leib verbrennenden Rottenstein (nicht wirklich, oder doch?) im „Alphabet des Juda Liva“ gewesen sein könnte.

Der abgerissene Strick

Montag, den 20. August 2007

Rope - © by matt-west@deviantart

Rope — © by matt-west@deviantart

Der abgerissene Strick kann wieder geknotet werden.
Er hält wieder, aber
Er ist zerrissen.

Bertolt Brecht

••• Wie oft habe ich diese Verse gelesen oder auch zitiert — und zwar immer im Zusammenhang mit Beziehungen, die, nach Verletzungen zumeist, zu zerbrechen drohten. Und ich habe dabei innerlich jeweils eifrig genickt. Aber man kann sich auch fortgesetzt heftig irren. Und das hier ist so ein Fall.


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Volver

Sonntag, den 19. August 2007

Penelope Cruz in: „Volver“ (Gesang: Estrella Morente)

Ich fürchte mich vor der Begegnung
mit der Vergangenheit,
die mich einholt.
Ich fürchte mich vor den Nächten
voller Erinnerungen,
die meine Träume anketten.
Doch der Reisende, der flüchtet,
hält früher oder später inne.
Und obwohl das Vergessen,
das alles zerstört,
meine alte Illusion
schon getötet hat,
bewahre ich insgeheim
demütig die Hoffnung,
die das ganze Vermögen
meines Herzens ist.
Zurückkehren
mit verwelkter Stirn.
Der Schnee der Zeit
hat meine Schläfen ergrauen lassen.
Fühlen, dass das Leben
nur ein Hauch ist,
dass zwanzig Jahre nichts sind,
dass der fiebrige Blick,
im Schatten irrend,
dich sucht und beim Namen nennt.
Leben mit der Seele, die sich
an eine süsse Erinnerung klammert,
die mich noch heute
zum Weinen bringt.

Carlos Gardel & Alfredo La Pera
„Raimundas Lied“, aus: „Volver“
Ein Film von Pedro Almodóvar

••• Eine Erinnerung daran, dass die Poesie aus dem Schoss des Liedes kommt…


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Es saßen drei Engel beisammen

Freitag, den 17. August 2007

feathers - © 2004-2007 by *Astrocat@deviantart
feathers – © 2004-2007 by *Astrocat@deviantart

Es saßen drei Engel beisammen.

Der eine war voll Blut,
der zweite ungeboren,
der dritte gut:

Der mischte die Karten.
Lange, leidgeschoren
ließ er die anderen warten

und reichte endlich dem ersten den Stoß.
Der griff in die Kinder, die harrten,
zog einen Jungen, ließ ihn ausholend los.

So knallte das Kind auf den Tisch.
Der zweite nun zog aus dem Schoß
behutsam ein Mädchen; malerisch

legt’ er’s zu ihm. Zwar war der tot,
doch als sich berührten die Glieder,
stieg von den beiden das Morgenrot

und schien auf die Engel nieder.

© Alban Nikolai Herbst (2006)

••• Inspiriert durch die Beiträge über Engel bei Markus A. Hediger, aber auch hier und dort und dort, habe ich mich auf die Suche nach Engelsgedichten begeben.


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An die Ersehnte

Donnerstag, den 16. August 2007

Gerte

Ich habe dich Gerte getauft, weil du so schlank bist
und weil mich Gott mit dir züchtigen will,
und weil eine Sehnsucht in deinem Gang ist
wie in schmächtigen Pappeln im April.

Ich kenne dich nicht – aber eines Tages
wirst du im Sturm an meine Türe klopfen,
und ich werde öffnen auf dies Klopfen,
und meine zuchtlose Brust wird gleichen Schlages
an Deine zuchtlosen Brüste klopfen.

Denn ich kenne dich – deine Augen glänzen wie Knospen
und du willst blühen, blühen, blühen!
und deine jungen Gedanken sprühen
wie gepeitschte Sträucher an Sturzbächen;
und du möchtest wie ich den Stürmen Gottes trotzen
oder zerbrechen!

Richard Dehmel (1863-1920)

••• Von der Angst vor dem Weiblichen und religiösen Reaktionen darauf war gestern die Rede. Und prompt – es gibt ja keine Zufälle – stosse ich auf ein traumhaftes Gedicht von Richard Dehmel. Wie sich das Ich hier trotzig in das antizipierte Gefürchtete hineinfallen lässt und den Schmerz in Kauf nimmt — das hat und gibt enorme Kraft.

Ulrich Janetzki liest: „An die Ersehnte“