Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Mandorla

Sonntag, den 2. Dezember 2007

Paul Celan spricht: Mandorla

In der Mandel – was steht in der Mandel?
Das Nichts.
Es steht das Nichts in der Mandel.
Da steht es und steht.
Im Nichts – wer steht da? Der König.
Da steht der König, der König.
Da steht er und steht.
Judenlocke, wirst nicht grau.
Und dein Aug – wohin steht dein Auge?
Dein Aug steht der Mandel entgegen.
Dein Aug, dem Nichts stehts entgegen.
Es steht zum König.
So steht es und steht.
Menschenlocke, wirst nicht grau.
Leere Mandel, königsblau.

Paul Celan (1920-1970)

••• Auf der Suche nach ein wenig mehr Informationen über Lars-Arvid Brischke, aus desses Poetik-Essay ich letzte Woche hier zitierte, stiess ich auf den Metroproleten, das Weblog-Alter-Ego von Brischke. Nur 78 Zugriffe, beklagte der Metroprolet, hätte obiges Video bei YouTube, und: „jeder pimpf hat mehr“. Nun, inzwischen sind es 10x so viele. Und die Turmsegler fügen bestimmt noch einige Views hinzu.

PS: Was „Mandorla“ bedeutet, darüber musste ich mich nun von einem Pfarrer aufklären lassen. Und dass die Namen Mandel/Mendel von Immanuel („G’tt mit uns“) kommen, das hätte ich auch nicht gewusst.

Ein ungewöhnlicher Celan, finde ich, und/aber immer wieder zu hören.

Ezra Pound in Bildern

Samstag, den 1. Dezember 2007

What you
depart from is
not the way
and olive tree
blown white in
the wind
washed in the
Kiang and Han
what whiteness
will you add to
this whiteness,
what candor?

Ezra Pound, aus: Canto LXXIV

••• Nachdem so viel von Ezra Pound die Rede war, fand ich ich obiges YouTube-Video interessant. Die neue deutsche Ausgabe des „ABC des Lesens“, auf das ich schon seit einem Jahr warte, ist übrigens erneut verschoben. Schade.

große wasser

Freitag, den 30. November 2007

Mikveh - © 2002 by Janice Rubin
Mikveh – © 2002 by Janice Rubin

willst du den hohlweg
nehmen
oder
durch große wasser
in andere welten tauchen?

du weißt es: auf dieser seite des spiegels
halte ich alle tore besetzt
und führe dich auf jedem pfad
durch adergeflecht labyrinthe und dschungel
doch immer wieder zu mir

willst du den hohlweg nehmen
oder den fluss? (den fährmann
zahlt niemand mit liebe)

auf der anderen seite
das weißt du auch
wachsen feuerschlünde und paradiese
aus deinen eigenen augen dir zu
du fliehst auf den strand
doch es bleibt selbst im abdruck
des fußes im sand
noch genügend von dir
dich zu kennen

willst du den hohlweg nehmen
oder das meer?
du ahnst es:
es führen
tausend wege hinein
doch keiner heraus

so bleibst du
mit mir gefangen

© Benjamin Stein (2007)

••• Dass mit dem „Selbstbildnis als Seraph“ etwas nicht stimmte, schwante mir schon, als ich am letzten Sonntag den Publish-Button drückte. Aber was? Der Begleittext hat mich heute auf die richtige Spur gebracht: Der Seraph muss weg.


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Beautiful

Dienstag, den 27. November 2007

Snowflakes - © 2007 by jofaithanna@deviantart.com

Snowflakes – © 2007 by jofaithanna@deviantart.com

Beautiful

is the
unmea
ning
of(sil

ently)fal

ling(e
ver
yw
here)s

Now

e. e. cummings

schön

ist das
nichts
sagen
de(schwei

gend)fal

lende(all
üb
er
all(sch

nein

e. e. cummings
Übertragung: parallalie

••• Parallalie, der letztens in einem Kommentar den Kopf schüttelte über meine Lesepraxis und mir kurz darauf half, Raymond Queneau wiederzufinden, eben jener betreibt ja selbst ein literarisches Weblog. Vor nicht allzu langer Zeit hat er dortselbst eine neue Rubrik eingeführt Unter lyrik-lyrik findet sich da nun eine Handvoll Beiträge der letzten zwei Jahre, in denen er sich an Gedichten anderer Autoren inspiriert, indem er sie ins Deutsche überträgt (wie im Beispiel oben) oder auch eigene poetische Erwiderungen oder Varianten neben die Originale stellt.


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Als Seraph

Montag, den 26. November 2007

Seraphinit Spheres - Halbedelsteingemmen (Russland)

willst du den hohlweg
nehmen
oder
durch grosse wasser
in andere welten tauchen?

du weisst es: auf dieser seite des spiegels
halte ich alle tore besetzt
mit blauem blick und flammenschwert
und führe dich auf jedem pfad
durch adergeflecht labyrinthe und dschungel
doch immer wieder zu mir

willst du den hohlweg nehmen
oder den fluss? den fährmann
zahlt niemand mit liebe

auf der anderen seite
das weisst du auch
wachsen feuerschlünde und paradiese
aus deinen eigenen augen dir zu
du fliehst auf den strand
doch es bleibt selbst im abdruck
des fusses im sand
noch genügend von dir
dich zu kennen

willst du den hohlweg nehmen
oder das meer?
du ahnst es: es führen
tausend wege hinein
doch keiner heraus

so bleibst du
mit mir gefangen

© Benjamin Stein (2007)

••• Manchmal beängstigt es mich, mit welcher Wucht die Worte hervorbrechen, wenn ich nur für eine kurze Zeit die Tür zum Aussen schliessen kann. Heute führte ein Nachhorchen auf Celans Zeile „… und ich bleib dir ein Hohlweg im Herzen“ zu diesem „Selbstporträt als Seraph“, das mir wie eine erste Annäherung an das Thema des geplanten neuen Buches „Mayim Rabim“ vorkommt und gleichzeitig beinahe das ganze Thema aufblättert. Die Mikveh (die grossen Wasser), der Fluss und das Meer – die alle als rituelles Tauchbad dienen können, als Relaisstation beim Wechsel in eine andere Identität. Wobei die Frage aufkommt, wie viel von uns wir zurücklassen könnten in einem solch magischen Tauchbad, das uns den Weg eröffnet in einen alternativen, einen vielleicht ganz gegensätzlichen Lebensentwurf.


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Mohn und Gedächtnis

Sonntag, den 25. November 2007

Mohn - © Adsy Bernart 2007

Mohn – © Adsy Bernart 2007

DIE Hand voller Stunden, so kamst du zu mir – ich sprach:
Dein Haar ist nicht braun.
So hobst du es leicht auf die Waage des Leids, da war es schwerer als ich…

Sie kommen auf Schiffen zu dir und laden es auf, sie bieten es feil auf den Märkten der Lust –
Du lächelst zu mir aus der Tiefe, ich weine zu dir aus der Schale, die leicht bleibt.
Ich weine: Dein Haar ist nicht braun, sie bieten das Wasser der See, und du gibst ihnen Locken…
Du flüsterst: Sie füllen die Welt schon mit mir, und ich bleib dir ein Hohlweg im Herzen!
Du sagst: Leg das Blattwerk der Jahre zu dir – es ist Zeit, daß du kommst und mich küssest!

Das Blattwerk der Jahre ist braun, dein Haar ist es nicht.

Paul Celan, aus: „Mohn und Gedächtnis“
© Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart (1952)

••• Seit Wochen geht mir diese Zeile im Kopf umher:

… und ich bleib dir ein Hohlweg im Herzen!

Und heute war sie schliesslich der Ausgangspunkt für ein „Selbstporträt als Seraph“. Das freilich hat mit dem Thema des obigen Gedichtes gar nichts zu tun. Aber ich wollte das Gedicht doch bringen, schon um mich selbst später daran zu erinnern, woher der Hohlweg kam.

Das „Selbstporträt“ kann hier erst bringen, wenn ich es noch ein wenig „durchgeatmet“ habe.

letzter abschied

Dienstag, den 20. November 2007

Wave - © 2006-2007 by abrokenpuppet@deviantart.com
Wave – © 2006-2007 by abrokenpuppet@deviantart.com

beim sinken der hand
was uns künftig verbindet
erwacht die trauer

© Benjamin Stein (2007)

••• Vermessen, nach einem so wunderbaren Haiku wie dem von Masaoka Shiki mit einem eigenen Haiku zu kommen. Abschiede – dieses Thema hat mich schon immer sehr beschäftigt. Allzu oft markieren sie die scharfen Bruchkanten in einer Biographie. Und oft geht es nicht ohne Trauer ab. Auch bleibt von dem, der geht, immer etwas zurück – wie auch bei dem, der geht, etwas bleibt von dem, der zurückblieb.