Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Die alten Weisen

Sonntag, den 15. Februar 2009

Johannes R. Becher
Johannes R. Becher (1891-1958)

Es sind die alten Weisen,
die neu in uns erstehn,
und die im Wind, dem leisen,
von fern herüber wehn.
Wenn sich die Wipfel neigen,
allabendlich im Wind,
dann gehn durch unser Schweigen,
sie, die gefallen sind.

Es sind die alten Lieder,
die singen neu aus mir,
und wie vorzeiten wieder,
am Abend singen wir.
Es ist in uns ein Raunen
und wird zum großen Chor,
und zu den Sternen staunen,
staunen wir empor!

Johannes R. Becher
aus: »Neue deutsche Volkslieder«,
vertont von Hanns Eisler

••• Als Nachtrag zum letzten Beitrag hier der vollständige Text der »Alten Weisen«. Ich bekomme noch immer eine Gänsehaut, wenn ich das Lied höre, und ich singe unweigerlich sofort mit.

Ich werde gelebt. Ich werde gestorben.

Donnerstag, den 29. Januar 2009

Les Murray (1997) - Foto: Valerie Murray
Les Murray (1997) – Foto: Valerie Murray

Cockspur Bush

I am lived. I am died.
I was two-leafed three times, and grazed,
but then I was stemmed and multiplied,
sharp-thorned and caned, nested and raised,
earth-salt by sun-sugar. I am innerly sung
by thrushes who need fear no eyed skin thing.
Finched, ant-run, flowered, I am given the years
in now fewer berries, now more of sling
out over directions of luscious dung.
Of water the crankshaft, of gases the gears
my shape is cattle-pruned to a crown spread sprung
above the starve-gut instinct to make prairies
of everywhere. My thorns are stuck with caries
of mice and rank lizards by the butcher bird.
Inches in, baby seed-screamers get supplied.
I am lived and died in, vine-woven, multiplied.

Hahnendornbusch

Ich werde gelebt. Ich werde gestorben.
Ich war dreimal zweiblättrig und abgeweidet,
doch schließlich gestielt und vermehrt,
spitzdornig und gerohrt, benestet und erhoben,
Erdensalz um Sonnenzucker. Ich werde innerlich besungen
von Drosseln, die kein beaugtes Hautding fürchten müssen.
Befinkt, ameisenbelaufen, beblüht, werden wir die Jahre
in mal weniger Beeren, mal weiteren Bögen
über den Richtungen köstlichen Mists gegeben.
Aus Wasser die Kurbelwelle, aus Gasen das Getriebe
ist meine Form vielgestutzt zur weiten Krone gesprossen
über dem Hungerbauchinstinkt, aus allem Prärie
zu machen. Meine Dornen sind vom Würgervogel
mit Karies aus Mäusen und stinkenden Echsen bestückt.
Ein Stück nach innen werden körnerschreiende Kleine versorgt.
Es wird gelebt, wird gestorben in mir, rankenbewebt, vermehrt.

Les Murray, aus: »Übersetzungen aus der Natur«
aus dem Englischen von: Margitt Lehbert
© Edition Rugerup 2007

••• Der große Dichter Derek Walcott schrieb über Les Murrays Werk:

»Es gibt keine Poesie in der englischen Sprache, die so verwurzelt ist in ihrer Heiligkeit, so breitblättrig in ihren Freuden und doch so intim und umgangssprachlich.«

Dem Gedichtband »Translations from Nature« setzt Les Murrays ein Motto voran: Zur Ehre Gottes. Heiligkeit und Frömmigkeit sind nicht das gleiche. Fromm sind diese Gedichte gewiss nicht, in denen Les Murray – ähnlich wie Neruda in seinen Oden – von Tieren und Pflanzen schreibt und dabei doch immer Menschliches poetisch in Szene setzt.


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Dies Land der Mühe

Sonntag, den 25. Januar 2009

August Graf von Platen-Hallermünde
August Graf von Platen-Hallermünde

Dies Land der Mühe, dies Land des herben
Entsagens werd ich ohne Seufzer missen,
Wo man bedrängt von tausend Hindernissen
Sich müde quält und dennoch muß verderben.

Zwar mancher Vorteil läßt sich hier erwerben,
Staatswürden, Wohlstand, eine Last von Wissen,
Und unsre Deutschen waren stets beflissen,
Sich abzuplagen und geplagt zu sterben.

Ein Solcher darf zu keiner Zeit ermatten,
Er fördre sich, er schmeichle jeder Mode,
Und sei dabei, wo Glück und Macht sich gatten.

Mir, der ich bloß ein wandernder Rhapsode,
Genügt ein Freund, ein Becher Wein im Schatten,
Und ein berühmter Name nach dem Tode

August Graf von Platen-Hallermünde (1826)
aus: »Poesiealbum 275«, Märkischer Verlag Wilhelmshorst

••• »Und ein berühmter Name nach dem Tode…« Als wär das nichts! Von August von Platen (1796-1835) hatte ich noch nichts gehört oder gar gelesen, bis mir die aktuelle Ausgabe des »Poesiealbum« ein wenig Nachhilfeunterricht erteilte. Die halbe Familie lag am Schabbes krank darnieder, und auch ich blieb im Bett, weil seit Tagen haarscharf davor, auch umzufallen. (Dank viel Schlaf und Vitaminen steht es nun besser.) In den Schlafpausen habe ich gelesen, nicht nur das Poesiealbum, sondern auch den Spiegel vom letzten Montag. Erst war ich angefressen, weil das Heft zum gleichen Preis gute 50 Seiten dünner geworden ist. Ich wurde aber besänftigt. Weggelassen wurde offenbar das Überflüssige. Ich habe lange keinen Spiegel mehr von vorn bis hinten durchgelesen, weil sich auf fast jeder Seite Hochinteressantes fand.


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Die Fähigkeit zu sein

Montag, den 12. Januar 2009

Für Arye Sachs

Die Fähigkeit, ein Vogel zu sein,
ist, unter anderem, die Fähigkeit
stets ein passendes Klima zu wählen,
daher die Gabe, hoch aufzusteigen —
zu den Landschaften der Sonne.

Nicht so wie die Poeten, die all ihre Tage den Schatten
von Vögeln mit hellen Pupillen verfolgen
und die Worte wie Flugkörner hochhalten —
nur manchmal springen sie von Brücken und zerschmettern
in ihre stürmischen Gedichte hinein. Während die Vögel
gemächlich über die Brücken ziehen, über das Leben hin.

Asher Reich, aus: »akzente« 6/2008
Übersetzt von Lydia und Paulus Böhmer

••• Wie schon berichtet, bescherte mir die Lektüre von »akzente« 6/2008 eine Neuentdeckung: Asher Reich. Der israelische Lyriker wuchs genau in jenem Milieu auf, das ich in der »Leinwand« als die Kindheitsumgebung von Amnon Zichroni beschreibe. Bis zu seinem 18. Lebensjahr lebte Reich im haredischen Meah Shearim – abgeschottet von der modernen Welt.

Während jedoch Zichroni, was die Dichtung angeht, nie etwas anderes als »Leser« sein wollte, drängte es Reich zum Schreiben.

Der Schriftkundige hatte die Sprachen der Welt zu lernen, Jargon und Tonarten der profanen Zeit, politisches und technisches Vokabular des modernen Staates und seiner Propaganda, die Geheimsprachen der Liebe, des Körpers, der Seele, Dialekte des täglichen Lebens und der Straße, akademische, literarische Hypertrophien.

Christoph Meckel


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dann wieder muss ich mich gedulden

Mittwoch, den 7. Januar 2009

mein beruf ist anstrengend
ich muss die anima der dinge suchen
ich habe die pflicht sie zu betrachten
und ihr verhältnis zueinander neu zu ordnen
jene kleine anhäufung der leeren dosen dort
sie hat doch eine botschaft
dann wieder muss ich mich gedulden
bis die dinge ihre schönheit der zerrüttung preisgeben
ich muss die vögel beruhigen
die nachts um meinen schlaf schwirren
und muss sie schützen vor dem willkürlichen licht

© SAID (2008), aus: »akzente« 6/2008

••• Ich lese sehr langsam derzeit und vor allem wissenschaftliche Bücher, die sich mit Aspekten des Themas beschäftigen, das möglicherweise zum Thema eines neuen Romans werden wird. So sind auch einige Literaturzeitschriften ungelesen liegengeblieben. Gestern habe ich immerhin Heft 6/2008 der »akzente« aus dem Stapel gefischt und durfte mich über eine Wiederbegegnung mit SAID freuen. »akzente« bringt einen Zyklus von SAID und Asher Reich, ein poetisches Zwiegespräch.

SAID erreicht mich durchaus nicht immer, aber mit einigen Gedichten aus diesem Zyklus hat er mir Freude gemacht.

Von Asher Reich ein andermal mehr.

Once Upon a Midnight Dreary

Dienstag, den 6. Januar 2009

••• Anlässlich des 200. Geburtstages von Edgar Allen Poe veranstaltet das Amerikahaus München einen Abend für – wie es in der Ankündigung heißt – »America’s father of the gothic« (sic!). Der Schauspieler Richard Clodfelter, Pianist Paul Flush und John Kenny an der Posaune bestreiten das englischsprachige Programm: »both haunting and brooding that will keep you on the edge of your seat.«

Die Show startet am 15. Januar 2009 (Donnerstag) um 19:30 Uhr im Amerikahaus. Die Karten kosten 8,- € (erm. 5,- €) und können telefonisch vorbestellt werden (+49-89-5525370).

Hoffentlich hat der Babysitter Zeit…

Schnee

Montag, den 22. Dezember 2008

Schnee

Früh, in der hellgrauen Dunkelheit nach einem Schneefall,
hörte ich das Kind sprechen, Tiraden und Laute.

Es war eine Sprache aus einem fremden Mund,
eine heller und weichere, sie fiel wie Schnee.

Im Gesicht der Liebenden wird etwas sichtbar
In jenem hilflosen Moment, bevor sie wissen, dass sie lieben

Und alles wiederherstellen. Es gibt Glas,
und wenn es bricht, macht es einen bestimmten Laut

und durch gefrorene Seen laufen Risse,
so schnell wie kein Vogel fliegt.

Ich weiß nicht, wie viele Morgendämmerungen ich gesehen habe,
doch keine passte so recht zu dem Tag, der folgte.

Es geht vorbei. Es bleibt nicht. Die Risse laufen.

Aber im Hellgrauen, im Unbestimmten, da könnt ihr wohnen.
Ihr wisst, wie Schnee aussieht, wenn er gefallen ist.

© Lars Gustafsson

••• Dieses Gedicht kam eben als Geschenk von Undine mit so ermunternden, lieben Worten zur »Leinwand«, dass es zum Erröten ist. (Die behalte ich für mich.)