Archiv der Kategorie 'Lyrik'

Unterm Pont Mirabeau

Donnerstag, den 22. Oktober 2009

Pont Mirabeau, Paris
Pont Mirabeau, Paris

Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine.
Was Liebe hieß,
muß ich es in ihr wiedersehn?
Muß immer der Schmerz vor der Freude stehn?

Nacht komm herbei, Stunde schlag!
Ich bleibe, fort geht Tag um Tag.

Die Hände, die Augen geben wir hin.
Brücken die Arme,
darunter unstillbar ziehn
die Blicke, ein mattes Fluten und Fliehn.

Nacht komm herbei, Stunde schlag!
Ich bleibe, fort geht Tag um Tag.

Wie der Strom fließt die Liebe, so
geht die Liebe fort.
Wie lang währt das Leben! Oh,
wie brennt die Hoffnung so lichterloh!

Nacht komm herbei, Stunde schlag!
Ich bleibe, fort geht Tag um Tag.

Wie die Tage fort, wie die Wochen gehn!
Nicht vergangene Zeit
noch Lieb werd ich wiedersehn!

Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine.
Nacht komm herbei, Stunde schlag!
Ich bleibe, fort geht Tag um Tag.

Guillaume Apollinaire (1880-1918)
Nachdichtung: Hans Magnus Enzensberger

••• Eben spielte die Herzdame eine ungeheuer dramatische Rezitation ab. Ich fühlte mich erinnert an Neruda. Aber es war Französisch: Guillaume Apollinaire.

Diese Hörprobe sei aber noch aufgeschoben. Stattdessen gönnen wir uns mal ein Chanson…


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Kristin Dimitrova im O-Ton

Montag, den 12. Oktober 2009

••• Als ich hier im letzten August von der akzente-Auswahl bulgarischer Lyrik berichtete und ein Gedicht von Kristin Dimitrova präsentierte, fragte ich sie, ob sie vielleicht einen O-Ton für den Podcast aufnehmen würde. Heute nun hat sie tatsächlich eine Aufnahme geschickt. Per Youtube-Video können wir nun »Die Grenze« auch im Original hören. Ich habe mich riesig gefreut. Danke Kristin!

Einen Einfall wagen

Montag, den 5. Oktober 2009

Charlotte Grasnick
Charlotte Grasnick (Mitte der 1980er Jahre)

••• Vor mir liegt das Manuskript für den ersten Gedichtband, den ich als Verleger (oder zumindest als Herausgeber) betreue. »so nackt an dich gewendet« soll er heißen und die etwa 150 gesammelten Gedichte von Charlotte Grasnick enthalten. Da die Originalausgaben vergriffen sind, waren die Rechte erhältlich. Wie ich es von Charlotte kannte, existierten keine elektronischen Versionen. Ich musste alles aus den gedruckten Büchern abtippen.

Wie ich erfahren habe, wurden Lyrikbände in der DDR in Auflagen gedruckt und offenbar auch verkauft, die hier nicht einmal überdurchschnittlich gut laufende Romane erreichen: mehrere Tausend. Dieser Gedichtband, der Charlotte Grasnicks lyrisches Werk wieder und dauerhaft zugänglich machen soll, wird wohl eher eine Liebhaberausgabe in deutlich kleinerer Auflage werden. Illustriert wird er sein mit Grafiken von Wilhelm Lachnit und Dieter Goltzsche. Ich hoffe, noch einen Part mit nachgelassenen Gedichten und solchen aus Anthologien hinzufügen zu können, die nicht in den erschienenen Gedichtbänden enthalten waren.


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fragwürdige rückkehr (altes kesselhaus)

Montag, den 7. September 2009

Altes Kesselhaus (Ravensburg)
Altes Kesselhaus (Ravensburg

als wär seither noch keine zeit vergangen
faulen im salpeterweiß die selben wände
und in den winkeln wie seit ewigkeiten hangen
die vagen spinnen noch an ihrer fäden ende

die stühle sind mit staub bedeckt und zeigen
wie nah sie dem zerbrechen sind im golde
der sonnenflecken die durch blind zersprungne scheiben
hereingefallen sind im roten abendneigen

es ist als ob ich wiederkommen sollte
und etwas auch als wollt es mich vertreiben
es ist als ob noch keine zeit vergangen wäre

säumnis –
säumnis –als zögerte noch immer in den wänden
weil ich nicht wegbleib und nicht wiederkehre
ein feuriger wink von geisterhaften händen.

Wolfgang Hilbig, aus: „die versprengung“
© S. Fischer Verlag (2002)

••• Durch eine höchst unwillkommene Magengeschichte ins Bett geworfen, habe ich gestern per Laptop DVD geschaut: »Der Rote Kakadu«. Aus irgendeinem Grunde hatte ich eine seichte Komödie à la »Sonnenallee« vermutet. Das war es nun gar nicht.


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geflüster

Freitag, den 4. September 2009

Efeu
Efeu — © SilentSweetDeath@deviantart.com (2007-2009)

der rote duft der nacht —
die rosen verglühen im dunklen
efeu an trunknen bäumen
im schlafenden gras
such ich mein herz
wo ichs gelassen find ich
nichts feuchtes im dunkel.

ach
ich schmeck mir
so steinern heut

aber irgendwo flüstern
mit meinem herzen
frauen die ich nicht geküßt hab
von der süße der rosen und
wie dunkel der efeu ist.

Wolfgang Hilbig, aus: „abwesenheit“
© S. Fischer Verlag (1979)

••• Gestern war mir nach Hilbig. Ich habe endlich den dicken Suhrkamp-Band mit seinen Gesammelten Gedichten aus dem Regal genommen und mich, mit Zettellesezeichen bewaffnet, durch die Gedichte geschlängelt, angefangen bei den frühen aus »abwesenheit« bis hin zu den letzten und den nachgelassenen, die ich noch nicht kannte.

Wie schnell so einer kalt wird (also kanonisiert), wenn er stirbt, dachte ich mir angesichts dieses ersten Bandes seiner »Werkausgabe«. Der zweite Band mit den Erzählungen und Kurzprosa ist unterdessen übrigens auch erschienen. Muss ich noch kaufen.