Archiv der Kategorie 'Die Leinwand'

18 Jahre Verspätung

Donnerstag, den 27. Dezember 2007

••• Ich bin wohlbehalten angekommen. Allerdings mit gehöriger Verspätung. Ganze achtzehn Jahre bin ich zu spät, um genau zu sein. Denn so lange ist es her, dass ich mein erstes Flugticket nach Israel in Händen hielt. Ich hatte damals vor, einige Monate hier in einem Kibbuz zu verbringen und Hebräisch zu lernen. Das Ticket ist verfallen. Ich bin nicht geflogen. Auch ein Jahr später nicht. Auch fünf Jahre später nicht. Erst jetzt, achtzehn Jahre später, bin ich endlich zum ersten Mal hier.

Amnon Zichroni habe ich also nicht wie geplant am Flughafen in Tel Aviv getroffen. Er muss irgendwann in den letzten achtzehn Jahren hier angekommen sein. Ich habe ihn verpasst. Der Taxifahrer allerdings – nein, es gibt keine Zufälle – kannte ihn. Es kam mir sogar so vor, als wäre er von Amnon geschickt, um mich am Flughafen aufzulesen. Und tatsächlich: als wir in Herzliya in der Rechov Ha’Ilanot 35 ankamen und ich bezahlt und mir ganz nebenbei sein gesamtes Euro-Wechselgeld in Münzen hatte andrehen lassen, da meinte er zu mir, dass er eine Nachricht für mich hätte. Er wühlte im Handschuhfach und fand schliesslich einen vergilbten Zettel, den er mir feierlich überreichte:

Willkommen in Israel, lieber Benjamin,

Du weisst, Du bist spät dran. Aber zu spät ist es noch nicht. Wir werden uns sicher treffen in den nächsten Tagen. Ich setze mich mit Dir in Verbindung.

Baruch ha-Ba
Dein Amnon

Nun, das geht gut los. Nathan ist auch schon da. Wir gehen jetzt erst einmal aus. Wunderbar, zwischen zehn koscheren Restaurants direkt am Meer wählen zu müssen! I love it!

Alles fügt sich zusammen

Mittwoch, den 26. Dezember 2007

••• Der Koffer ist gepackt, das Arrangement für Schabbat in Ofra bestätigt, die Verabredung für morgen in Tel Aviv getroffen. Es kann losgehen.

Ich bin enorm aufgeregt, nicht nur wegen der bevorstehenden Reise, sondern auch, weil sich heute früh binnen fünf Minuten für mich geklärt hat, wie das Buch geformt sein soll. Ich hatte zunächst nur eine vage und ziemlich abstrakte Idee: Um eine spezifische, bedeutsame Variante von Wirklichkeit sollte es gehen — um Identität. Um genau zu sein: angenommene und zurückgelassene Identität.


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Nach Jerusalem

Dienstag, den 25. Dezember 2007

Little House in Bakah
Little House in Bakah

••• Der Flug ist gebucht für Donnerstag. Ich werde acht Tage in Israel verbringen. Ankommen sollte ich in Tel Aviv gegen Abend und gleich weiter fahren ins knapp 20 km nördlich von Tel Aviv gelegene Herzliya. Dort besuche ich einen Freund. Herzliya liegt am Mittelmeer. Am Freitag werde ich also ans Meer kommen: anhalten, durchatmen. Um Mittag herum muss ich mich aufmachen nach Ofra, einer Siedlung nördlich von Jerusalem, bereits jenseits der grünen Linie, also in den besetzten Gebieten. Es ist eine frumme Siedlung. Ich werde Schabbat bei einer Familie verbringen. Darauf bin ich sehr gespannt, denn in ganz Ofra ist am Schabbat wirklich Schabbat. Überall, ganz und gar.

Nach Schabbat gehts nach Jerusalem, wo ich mit Mühe noch eines der letzten freien Zimmer bekommen konnte, die es jetzt – zwischen Weihnachten und Neujahr – in Jerusalem noch gibt. Das „Little House in Bakah“, wo ich unterkommen wollte, war eigentlich auch ausgebucht. Die Herzdame hat einfach eine Mail hingeschickt mit der Frage, ob „ausgebucht“ wirklich „ganz ausgebucht“ heisst. Heisst es nicht. Und so habe ich für die fünf Tage Jerusalem ein Zimmer in diesem wundervollen, alten Haus.

Alt ist das Haus, aber nicht unmodern. Es gibt Wireless-Internet. Und das brauche ich auch. Denn diese Reise ist – wenn ich auch sicher bin, mich zu erholen – keine Urlaubsreise. Die Stifte sind gespitzt, ein neues Moleskine parat. Es gilt, Material zu sammeln — für das neue Buch. Heisst das jetzt, ich mache Ernst?


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große wasser

Freitag, den 30. November 2007

Mikveh - © 2002 by Janice Rubin
Mikveh – © 2002 by Janice Rubin

willst du den hohlweg
nehmen
oder
durch große wasser
in andere welten tauchen?

du weißt es: auf dieser seite des spiegels
halte ich alle tore besetzt
und führe dich auf jedem pfad
durch adergeflecht labyrinthe und dschungel
doch immer wieder zu mir

willst du den hohlweg nehmen
oder den fluss? (den fährmann
zahlt niemand mit liebe)

auf der anderen seite
das weißt du auch
wachsen feuerschlünde und paradiese
aus deinen eigenen augen dir zu
du fliehst auf den strand
doch es bleibt selbst im abdruck
des fußes im sand
noch genügend von dir
dich zu kennen

willst du den hohlweg nehmen
oder das meer?
du ahnst es:
es führen
tausend wege hinein
doch keiner heraus

so bleibst du
mit mir gefangen

© Benjamin Stein (2007)

••• Dass mit dem „Selbstbildnis als Seraph“ etwas nicht stimmte, schwante mir schon, als ich am letzten Sonntag den Publish-Button drückte. Aber was? Der Begleittext hat mich heute auf die richtige Spur gebracht: Der Seraph muss weg.


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Als Seraph

Montag, den 26. November 2007

Seraphinit Spheres - Halbedelsteingemmen (Russland)

willst du den hohlweg
nehmen
oder
durch grosse wasser
in andere welten tauchen?

du weisst es: auf dieser seite des spiegels
halte ich alle tore besetzt
mit blauem blick und flammenschwert
und führe dich auf jedem pfad
durch adergeflecht labyrinthe und dschungel
doch immer wieder zu mir

willst du den hohlweg nehmen
oder den fluss? den fährmann
zahlt niemand mit liebe

auf der anderen seite
das weisst du auch
wachsen feuerschlünde und paradiese
aus deinen eigenen augen dir zu
du fliehst auf den strand
doch es bleibt selbst im abdruck
des fusses im sand
noch genügend von dir
dich zu kennen

willst du den hohlweg nehmen
oder das meer?
du ahnst es: es führen
tausend wege hinein
doch keiner heraus

so bleibst du
mit mir gefangen

© Benjamin Stein (2007)

••• Manchmal beängstigt es mich, mit welcher Wucht die Worte hervorbrechen, wenn ich nur für eine kurze Zeit die Tür zum Aussen schliessen kann. Heute führte ein Nachhorchen auf Celans Zeile „… und ich bleib dir ein Hohlweg im Herzen“ zu diesem „Selbstporträt als Seraph“, das mir wie eine erste Annäherung an das Thema des geplanten neuen Buches „Mayim Rabim“ vorkommt und gleichzeitig beinahe das ganze Thema aufblättert. Die Mikveh (die grossen Wasser), der Fluss und das Meer – die alle als rituelles Tauchbad dienen können, als Relaisstation beim Wechsel in eine andere Identität. Wobei die Frage aufkommt, wie viel von uns wir zurücklassen könnten in einem solch magischen Tauchbad, das uns den Weg eröffnet in einen alternativen, einen vielleicht ganz gegensätzlichen Lebensentwurf.


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Mayim Rabim

Dienstag, den 6. November 2007

Mikveh - © 2002 by Janice Rubin
Mikveh – © 2002 by Janice Rubin

••• Eben habe ich mit der Herzdame auf ein neues Buchprojekt angestossen. Der Code-Name: Mayim Rabim – Many Waters oder auch Grosse Wasser (s. Tehillim 93). Wie heute schon berichtet, schwelt die Idee schon seit einem Jahr. Doch heute – bei der Lektüre eines Essays über die Affäre Wilkomirski – kam mir plötzlich der entscheidende Einfall. Und alles bislang Angedachte fügt sich plötzlich in ein stimmiges Ganzes. Da stand ich mit einem Mal ziemlich unter Strom und in Flammen.

Jetzt heisst es, Materialien zu sammeln. Ich werde viel recherchieren und lesen müssen.

Was das werden soll, worum es gehen wird? Ob und – wenn ja – wie ich hier im Turmsegler davon berichten werde, weiss ich noch nicht.