••• Ein grosser Teil der Feiertagsliturgie besteht aus lithurgischen Gedichten, sogenannten Piyutim. Auf die Gefahr hin, eingefleischte Liebhaber dieser Kunst zu bestürzen: Mir fehlt an diesen Texten oft wirkliche Originalität, sei es im Thema oder in der Form. Aber selbstredend gibt es auch – und nicht selten – echte poetische Entdeckungen unter diesen Texten. Von den vielfältigen, häufig über Jahrhunderte tradierten Formen hat mich immer das Achrostichon besonders interessiert. Hier bilden die ersten Buchstaben der Zeilen zumeist einen Namen oder einen Satz, oft jedoch auch die Alphabetfolge mit Anspielung an die mystische Überlieferung, dass die Welt mittels der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets erschaffen worden sei. Ein Beispiel für diese Formenvariante ist das wohl berühmteste Piyut für Rosh Hashanah: Unetane Tokef.
Dass der Verfasser – es wird Rabbi Amnon von Mainz zugeschrieben – diese Form des Alephbet-Achrostichons gewählt hat, ist sicher kein Zufall. Denn sein Gebet war ein Tikkun, eine Wiedergutmachung oder auch Wiederherstellung. Um zu verstehen, warum dieses Piyut Jahr für Jahr immer wieder die meisten Beter zu Tränen rührt, muss man die Geschichte kennen, die sich um die Entstehung dieses Gebetes rankt. Und diese soll heute erzählt werden. Ich zitiere aus dem Buch „Or Zarua“ von Rabbi Yitzhak ben Mosche aus Wien (1862).
Den ganzen Beitrag lesen »