Manchmal bedauere ich…
/Daniel/ Manchmal bedauere ich, nicht Physik, Chemie oder ein anderes Fach zu unterrichten, für das es einen Vorbereitungsraum gibt, einen separaten Raum, abschließbar, zu dem die Schüler keinen Zutritt haben. Wahrscheinlich würde ich mich in den Pausen dort einschließen, um ihnen allen, Schülern wie Kollegen, für die wenigen Minuten Pause zu entkommen. Der kleine Tisch im Lehrerzimmer und die Zeitung, in die ich mich ohne eigentliches Interesse vertiefe, sind ein unvollkommener Ersatz für diese erträumte Möglichkeit, doch wenigstens etwas.
Auch heute war es nicht anders. Ich blätterte in der Zeitung und las hier und dort einen Artikel an, wechselte vom Feuilleton zur Innenpolitik, von den Börsennachrichten zu den Wohnungsanzeigen und zum Lokalteil. Ich betrachtete lange ein Foto, das den Bus zeigte, der vor einer Woche vornüber durch den Asphalt der Straße in einen neu gegrabenen U-Bahn-Tunnel eingebrochen war.
Die Baustelle liegt auf meinem Weg zur Schule. Vor zwei Tagen war rings um die Grube ein hoher Bauzaun aufgestellt worden. Aber ich wußte von den beiden, die noch immer hinter diesem Zaun aushielten: ein junger Mann und ein Mädchen. Ein großer Teil des Schachtes war zusammengesackt. Nur die Trümmer des verunglückten Busses verhinderten, daß er ganz einstürzte. In dem Artikel unter dem Foto hieß es, man müsse erst die Bereiche um die Fundamente der umliegenden Häuser absichern, bevor man die beiden Toten aus den Resten des Wracks herausschweißen könne.
Ich legte die Zeitung zusammen. Vergiß es, dachte ich, denk nicht daran. Doch in diesem Augenblick glaubte ich, sie zu hören. Sie froren. Sie warteten und riefen. Du solltest ihnen antworten, sagte ich zu mir. Du könntest sie einladen und ihnen ein Dach über dem Kopf und ein Bett anbieten, bis man sich wieder an sie erinnert. Manchmal glaube ich wirklich, daß ich spinne.
Ich warf die Zeitung in den Müll. Als ich zum Abwaschbecken ging, um meine Tasse auszuspülen, berührte mich jemand leicht am Arm. Es war Franziska.
Ich hätte nicht zusammenzucken dürfen, dachte ich, als ich bemerkte, wie es mich durchfahren hatte, ob nun vor Schreck oder einfach wegen der mehr als vertraulichen, fast schon zärtlichen Berührung.
Daniel? sagte sie, mehr fragend als alles andere und als fürchtete sie, ich würde überhaupt nicht reagieren. Es war genau jener Ton in ihrer Stimme, den ich absolut nicht mag, erst recht nicht hier, wo man uns hätte zuhören können – so bittend, ja fast flehend.
Was ist? fragte ich und erschrak, weil mir klar wurde, daß die Art, wie sie leise meinen Namen gesagt und die zwei Worte, die ich erwidert hatte, schon viel zu sehr an etwas Persönliches wie zwischen Freunden, Vertrauten, Geliebten erinnerten. Mehr, als mir hätte lieb sein können.
Was willst du? fragte ich, ohne sie anzusehen, noch einmal, als sie nicht antwortete.
Kann ich dich anrufen?
Sicher, antwortete ich und war nahe daran, sie einfach wegzustoßen. Schon wieder dieser bittende Ton in ihrer Stimme. Ich kann jetzt nicht, ich will jetzt nicht mit dir reden. Aber das sagte ich schon nicht mehr.
Heute abend, bist du zu Hause? Sie hörte nicht auf. Was würde sie noch fragen? Warum hörte sie nicht auf? Ich hatte doch ja gesagt.
Ja doch, ja, ruf an, wenn du willst, sagte ich, recht unwirsch. Ich stellte meine Tasse weg, nahm meine Tasche und ging. Viel zu schnell, viel zu fluchtartig, dachte ich. Als ich in die Klasse kam und es klingelte, war es wie eine Erlösung. Fünfundvierzig Minuten, dachte ich erleichtert, in denen sie ganz bestimmt nicht kommen, mich nicht ansprechen könnte.
Ich verstehe sie nicht. Warum läßt sie sich das alles gefallen von mir, die verletzende Art? Warum kommt sie dennoch immer wieder, verflucht mich nicht, beschimpft mich nicht endlich einmal, um dann für immer von mir genug zu haben und nicht mehr mit mir zu sprechen? Ich war nie zu einer Frau wie zu ihr, schon gar nicht, wenn ich liebte. Aber ich liebe sie nicht. Und ich habe es ihr gesagt. Wie oft schon habe ich es ihr gesagt! Aber glaubt sie es? Hört sie mir überhaupt zu? Es kann doch unterdessen sogar von ihrem Gefühl kaum noch etwas übrig sein. Welche Liebe verträgt denn solche fortwährende Demütigung?
Dabei bin ich soweit, mich nicht einmal mehr für die Art, wie ich mit ihr umgehe, zu schämen. Sie müßte nichts ertragen, sage ich mir, wenn sie nur ein wenig stolzer wäre und mich nicht mehr anspräche. Ihr stummes Dulden macht mich nur wütend, wie alles, wogegen ich machtlos bin.
Ich glaube, ich war nie ein Mann, bei dem es eine Frau lange aushalten könnte, schon gar nicht für ein Leben. Vielleicht langweile ich sie nach einer gewissen Zeit, die einmal länger, ein anderes Mal kürzer ist. Vielleicht ist es auch meine Art, allem einen dauernden Wert abzusprechen, auch und gerade der Liebe und jedem anderen Gefühl. Ich weiß es nicht.
Vorigen Monat schlug Franziska am Telefon vor, gemeinsam nach Italien zu fahren, ein oder zwei Wochen oder zumindest für ein verlängertes Wochenende. Sie sprach von unserer Beziehung wie von altbackenem Brot, das man mit Wasser bestreicht und in die Backröhre legt, bis sich die Poren öffnen und das Brot wieder atmet. Sie glaubt, mich erkannt zu haben, glaubt zu wissen, daß ich sie brauche und es nur nicht zugeben kann.
Nachdem wir in der Frühstückspause miteinander gesprochen hatten, hoffte ich nur noch, ihr den Tag über aus dem Weg gehen zu können. Ich hatte gleich beschlossen, am Abend auszugehen, irgendwohin, doch keinesfalls zu Hause zu bleiben. Da sie nun wußte, daß ich nichts vorhatte, konnte es sein, daß sie nicht anrief, sondern vorbeikam. Also ging ich spazieren, setzte mich in ein Café, las und ging erst spät abends nach Hause. Als ich schon im Bett lag, klingelte das Telefon. Sicher war es Franziska.
Wer weiß, wie oft sie es schon versucht hat, dachte ich. Doch ich nahm nicht ab.