Immer, wenn ich nach Hause komme
/Nina/ Immer, wenn ich nach Hause komme, sehe ich hinüber zu den Fenstern unseres Nachbarn. Geradezu lauernd starre ich auf die Jalousien mit den schräg angestellten Lamellen. Ich bin neugierig auf das, was sie verbergen, neugierig auf den Menschen, der dort wohnt und dessen Vorname mit einem „D.“ beginnt.
Wir wohnen jetzt schon zwei Wochen hier, und ich habe ihn noch nie gesehen, als wäre er die ganze Zeit über abwesend, verreist, im Krankenhaus oder was auch immer. Vielleicht würde dieser Mensch mich gar nicht interessieren, hätte ich ihn gleich zu Beginn einmal gesehen, und wären da nicht diese Jalousien. Es ist unmöglich, vom Garten aus durch eines der Fenster in seine Wohnung zu sehen. Sie muß immer im Halbdunkel liegen, stelle ich mir vor, eine richtige Höhle. Was ist das für ein Mensch, der sich in diesem Dämmerlicht wohl fühlt? Ist es ein Mann? Das glaube ich fest. Wie alt ist er? Wie sieht er aus? Ich bin ihm noch nie begegnet, und ich ertappe mich dabei, wie ich Vermutung auf Vermutung anstelle, die mir alle aber nach einer Weile wieder unwahrscheinlich vorkommen, so daß ich sie durch neue ersetze, die der Wirklichkeit womöglich auch nicht viel näher sind. Ich sehe immer wieder ganz verschiedene Menschen vor mir, wenn ich über diesen scheinbar ständig abwesenden Nachbarn nachdenke. Und ich habe bemerkt, daß ich es recht oft tue.
Vielleicht ist es ähnlich wie mit meinen Vorstellungen von meinem ersten eigenen Zimmer, in das ich nun endlich eingezogen bin. Aber es ist doch auch anders, denn diese erträumten Zimmer ähnelten sich immer in gewisser Weise. Das waren Bilder meiner Wünsche und sich deswegen in vielen Details gleich. Was aber hat der Nachbar mit meinen Wünschen zu tun? Nichts, sage ich mir. Oder doch etwas? Wünsche ich ihn mir am Ende so oder so? Merkwürdiger Gedanke.
Ich denke mir immer, daß er wenigstens so alt sein muß wie der Schauspieler, also Mitte vierzig etwa. Diesen Tic mit den Jalousien würde ich Henry auch zutrauen. Dann aber überlege ich, daß er ja vielleicht im Moment gar nicht hier wohnt. Es könnte doch sein, daß er im Ausland arbeitet und nur ein paar Wochen im Jahr zu Hause ist. Vielleicht ist er am Ende genau so ein Typ wie der Schauspieler: zugeknöpft, kühl.
Aber da sind dann doch meine Wünsche. Der Gedanke an den im Ausland arbeitenden Anzugmenschen machte mich traurig, er kam mir fad vor, und ich wäre wirklich enttäuscht gewesen, wenn er sich als wahr herausgestellt hätte. Deshalb war ich froh, als diese Möglichkeit ausschied oder doch zumindest sehr unwahrscheinlich wurde. Denn ich habe den Nachbarn zwar, wie gesagt, noch nie gesehen; aber gehört habe ich ihn.
Das war vorige Woche, spät abends, so gegen halb elf. Ich war schon ins Bett gegangen, hatte aber nicht einschlafen können. Und da hörte ich plötzlich aus dem Zimmer nebenan, das zu seiner Wohnung gehört, Musik.
Es war ein Klavierkonzert, das ich nicht kannte. Irgend etwas Russisches, sehr melancholisch, dachte ich, genau das Richtige vorm Einschlafen. Er mußte die Musik ziemlich laut gestellt haben, denn ich konnte jeden Ton, selbst noch die leisen Passagen, deutlich hören, als stünde zwischen unseren Zimmern eine Tür offen. Diese Vorstellung fand ich spannend und unheimlich zugleich. Gott sei Dank hörte ich hinter der Wand keine Schritte.
Noch während die Musik lief, mußte ich eingeschlafen sein. Vielleicht bin ich ja diejenige, die einen Tic hat. Am nächsten Morgen jedenfalls lauschte ich an der Wand, aber es war kein Mucks zu hören. Auch an den folgenden Abenden blieb es still. Und wann immer ich vor dem Haus stehe und zu den Fenstern des Nachbarn hinaufsehe, rührt sich nichts, als wäre unser Haus zur Hälfte ein Geisterhaus, in dem nur ein Klavier wohnt, das eines Abends leise gerufen hat.