Ich weiß nicht, wie wir hierher gekommen sind

/Richard/ Ich weiß nicht, wie wir hierher gekommen sind. Vielleicht ist es nur die natürliche Fortsetzung der Enge. Erst glaubte ich, man hätte uns einbetoniert. Aber dann merkte ich, daß ich mich bewegen konnte, und auch das Mädchen bewegte sich in seinem Glockenmantel. Es schien sogar, als würde sie tanzen. Das machte mich glücklich.

Erst, als sie ihr Gesicht mir zuwandte, lächelte und dabei noch immer weinte und ich sah, daß das Blut an ihrem Mund frisch war, wußte ich wieder, daß ich nicht mehr mir selbst gehörte. Wahrscheinlich hatten wir über Nacht die Umklammerung des Busses nur gegen eine andere Umklammerung eingetauscht. Aber ich war bei all dem doch sehr ruhig.

Ich traf sie im Regen. Sie ging weit vor mir. Ihr kurzer Mantel wippte bei jedem Schritt, links, rechts. So von weitem wirkte sie wie ein Glöckchen, das stumm geläutet wird. Ich ging schneller, und an der Bushaltestelle holte ich sie ein.

Ihr Haar war naß wie meins. Ich glaube, wir beide froren. Jedesmal, wenn der Wind durch das Wartehäuschen pfiff, schüttelte es mich. Aber sie bewegte sich gar nicht. Sie starrte über die Straße, die Hände tief in den Taschen vergraben, und störte sich nicht an den Tropfen, die ihr von den Haaren übers Gesicht liefen, als würde sie weinen. Vielleicht versteckte sie darin auch nur etwas, weil sie ahnte, daß mein Blick auf ihr lag.

Als der Bus vorfuhr, sah sie zur Seite, auf die Pfütze vor dem Haltestellenschild und trocknete ihr Gesicht hastig mit dem Ärmel ab.

Ich glaube, der Busfahrer ahnte nichts. Sie zahlte den Fahrschein mit einem Fünfmarkstück. Der Fahrer drückte ein paar Tasten, und der Automat spuckte das Wechselgeld in die Münzschale. Sie sammelte jede Münze einzeln auf, steckte den Fahrschein ein und setzte sich ans verregnete Fenster. Ich hätte zu Fuß gehen können, aber auch ich stieg ein.

Sie sah zum Fenster hinaus, und ihr Kopf bewegte sich nicht einmal, als der Bus anruckte. Ich setzte mich neben sie und versuchte herauszufinden, wohin sie schaute, was sie in genau diesem Moment sah. Es dauerte zwei Stationen, ehe ich darauf kam, daß es die Regentropfen waren. Während der Bus hielt, klebten sie an den Scheiben. Wenn sie sich nicht halten konnten, liefen sie erst langsam und dann immer schneller an den Scheiben herab, bis sie sich aufgelöst hatten. Doch wenn der Bus fuhr, mußten sie sich anklammern, und wenn es nicht gelang, zitterten sie zur Seite und wurden vom Fahrtwind fortgerissen.

Sie suchte sich einen Tropfen aus und sah ihm zu: beim Halten, beim Anklammern, beim Zittern, beim Auflösen. Immer wieder einen neuen. Ihre Augen folgten ihm, ob der Bus fuhr oder hielt. Ich weiß nicht einmal, ob ihr klar war, wohin sie fuhr.

Ich zog meinen Mantel zurecht und legte die Aktentasche auf meinen Knien ab. So war es bequemer. Ich versuchte, die Tropfen zu finden, auf die sie es abgesehen hatte. Doch immer, wenn ihre Augen sich bewegten und ihr Blick einem auffließenden Rinnsal folgte, merkte ich, daß ich mich getäuscht hatte.

Wir spielten ein Spiel. Ich glaubte dabei, daß sie mich gar nicht bemerkt hatte, daß es für sie keinen Unterschied machte, ob ich oder irgendwer neben ihr saß. Daß es keinen Unterschied machte, ob es ein Bus war, in dem sie fuhr, oder daß sie überhaupt fuhr und daß es überhaupt Tropfen waren.

Ich hatte das Spiel verstanden, als das Café in der kleinen Passage an den Tropfen vorbeizog. Ich hätte aussteigen sollen, um mich an den Tisch zu setzen, den der Kellner für mich freigehalten hatte, ganz wie gestern. Ich blieb aber sitzen und stellte weiter Vermutungen an über sie, über ihren Blick, über das lautlose Klingen, während sie ging. Ich wollte kein Schauspiel, nur die stillen Irrtümer zwischen den Regentropfen. Also blieb ich sitzen.

Ich war so verloren im Raten, Zweifeln und Folgen, daß ich erst sehr spät bemerkte, daß wir mit den Tropfen sanken. Jemand schrie, und das Mädchen faßte mir plötzlich unter der Aktentasche hinweg direkt in den Schoß und krallte sich fest. Wir sanken vornüber, die Straße gab nach, Glas splitterte, und als das Gestänge vor uns knirschte und auf uns zuschlich, sah ich zu ihr, und sie sah mich an. Das Gestänge sperrte uns ein, preßte und drückte Glassplitter durch den Stoff in die Haut bis tief ins Fleisch und schnürte uns ein und zog sich zu wie eine metallene Schlinge.

Ich spürte keinen Schmerz. Ich hätte weiter gespielt, doch ich konnte nicht atmen unter der Klammer. Bevor ich die Augen schloß, sah ich sie noch lächeln und sah einen roten Faden, eine ruhige Tropfenspur von ihrem Mundwinkel übers Kinn bis zum Hals. Es wurde still um uns, und so blieb es sehr lange.

Wie wir hierher gekommen sind, kann ich mir nicht erklären. Aber sie lächelt ja, wenn es auch Blut ist auf ihren Lippen, und es scheint sogar, als würde sie tanzen in ihrem Glockenmantel.

Ich atme nicht, und mein Herz fault im Bauch. Mein Kinn ist verdreht. Es ist alles, wie es sein soll, nur ein wenig eng.

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