Ich soll erschossen werden

/Richard/ Ich soll erschossen werden. Eben habe ich es erfahren, von einem müden, von all dem recht unberührten Sergeanten, der die Botschaft zwischen den Zähnen hervorpreßte. Er stockte nicht ein einziges Mal in seiner Rede, von der ich nur behielt: Standrecht, am frühen Morgen, Tod durch Erschießen. Als er verstummt war und ich ihn wohl sehr verständnislos ansah, schien er aufs Äußerste verwirrt und schnitt eine nervöse Grimasse, die sein Gesicht entstellte.

Ich versuchte ein erstes und letztes Mal, mir ein Bild zu machen von meiner Umgebung: der feuchten Zelle und dem Sergeanten, der mitten darin stand und sich nicht bewegte. Mir wollte aber kein Bild mehr gelingen. Es schien, als würden die Zellenwände zur Unendlichkeit hin auseinanderrücken und der Sergeant von einer geheimen Kraft vom Boden abgehoben und in den endlos und schwarz aufklaffenden Raum entrückt, so daß er immer undeutlicher zu sehen war und sich schließlich ganz auflöste.

Als ich wieder zu mir kam, hatte der Sergeant die Zelle bereits verlassen, der Schließer die Tür verriegelt. Ich war allein. Und noch war alles in mir ruhig, rührte sich nichts. Erst, als ich meine Hand an die feuchtkalte Wand der Zelle legte, nüchtern bedachte, daß es ungefähr gegen sechs Uhr abends sein mußte, da erst wurde mir klar, daß das Urteil nun unabänderlich feststand und mir bis zum Morgen nur noch wenige Stunden bleiben würden.

Ich will nicht den Helden spielen, doch diese Entdeckung warf mich nicht um. Ich hatte von Anfang an gewußt, wie es enden konnte oder gar mußte: vor den Abgründen der Gewehrläufe eines Erschießungskommandos.

Es schien mir, als hätte ich mich seit Jahrhunderten nicht mehr bewegt. Ich versuchte aufzustehen, doch es ging nicht. Ich war wie gelähmt und blieb auf dem kalten Betonfußboden sitzen. Durch die Gitterstäbe des Fensters konnte ich den Himmel sehen. Aber auch er war leer, und ich hätte lange warten müssen, daß er sich wieder füllt. Das wäre ein Warten gewesen wie das meiner Großmutter über drei Monate zwischen ihren beiden Toden.

Sie setzte sich früh ans Fenster und blieb dort reglos hocken. Sie starrte aus dem Fenster, doch es machte den Eindruck, als berühre sie gar nicht, was auf der Straße, über die wir gekommen waren, vor sich ging, ja als nähme sie es nicht einmal wahr. So saß sie dort nach ihrem ersten Schlaganfall, dem ein Vierteljahr später ein zweiter folgte, der sie fortholte von diesem Fenster.

Aber vielleicht war es auch anders gewesen. Jemand hatte sie bemerkt, und es erschien eines Tages ein bewaffneter Trupp, und jemand in Zivil zeigte eine Blechmarke und forderte sie auf, ihr provokatives Sitzen aufzugeben. Aber sie tat es nicht, und sicher haben sie sie mitgenommen, denn sie konnten nicht dulden, wie sie dort saß. Ich sah sie nicht wieder.

Auch mein Warten wird nicht länger geduldet. Der Himmel füllt sich nicht. Und die Zeit ist abgelaufen, wenn die Nacht vorüber ist. Es wird nicht mehr lange dauern. Der Schließer wird die Zellentür öffnen. Man wird mich holen.

Ich sehe das alles ganz deutlich vor mir. So und so wird es sein, denke ich. Es erschreckt mich nicht einmal, daß mich das alles nicht ängstigt, sondern daß ich unbeteiligt daran scheine oder gar in Erwartung. Wie an manchen der vergangenen und fast vergessenen Sommerabende in der Stadt, wenn ich mich ins Kino setzte, um zum weißichwievielten Male Ornella Muti im »Taubenhaus« zu sehen. Da war ihr verängstigtes Gesicht in der Szene mit der vom Ventilator zerstückelten Taube. Das machte mich leiden, ein Gefühl, dem ich mich ganz hingab.

Als es schließlich soweit ist, zwei Soldaten in die Zelle treten, um mich zu holen, da fühle ich ihren Griff nicht. Sie führen einen Toten weg, denkt es in mir. Der Zellengang scheint kein Ende zu nehmen, geht mir noch ein letzter Gedanke durch den Kopf. Dann höre ich langsam auf zu sehen, zu riechen, zu schmecken. Ich höre auf mit mir.

Noch einmal werde ich wach. Das ist der Moment, als sie anlegen. Gleich werden sie über dich herfallen mit ihren Kugeln, denke ich. Dann dringen mir die Geschosse ins Fleisch, narben die Wand. Es ist, als würden in meinem Innern Gefäße flüssigen Metalls ausgegossen. Es ist dunkel.

Sekunden später nur höre ich eine Stimme, die mich ruft: Was tust du da? Und ein Lachen.

Warum, frage ich mich, lacht sie? Ich bin erschossen worden! rase ich hinaus, und ich taste meinen Körper ab nach den Wunden, die mir die Kugeln ins Fleisch gerissen haben mußten. Aber es sind keine dort.

Ich hatte am Fenster gesessen. Das wird nicht geduldet.

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