Ich merkte es sofort

/Daniel/ Ich merkte es sofort, als ich aus dem Haus trat. Etwas hatte sich verändert. Ohne das geringste Zeichen einer Vorankündigung war eine Grenze gezogen und das unmerkliche Ende von etwas dem schroffen Beginn von etwas anderem gewichen. Und dieses andere bestimmte nun den Gang der Dinge.

Es war der Schneegeruch, ein unbestechlicher Bote. Er hob sich heraus aus der Vielzahl der Gerüche dieses Morgens, hob sich heraus durch sein bloßes Dasein und ließ keinen Zweifel mehr zu. Es war Ende September. Der Sommer hatte endgültig ausgespielt, der Herbst unbarmherzig sein Regiment angetreten.

Gestern noch deutete nichts darauf hin. Es hatte keine Detonation gegeben. Still war sie vor sich gegangen, schleichend und so kaum wahrnehmbar, diese Veränderung der Natur. Doch nun war er da, der Schneegeruch. Schon sah ich Astskelette vor mir, zusammengefegte Berge faulenden Laubs, kümmerliche Seiten eines Buches, das die Natur im letzten Vierteljahr mit den grellen Farben einer absurden Geschichte beschrieben hatte und unter die sich die Igel flüchten würden, um den Winter schlafend zu überleben.

Ich mußte wach bleiben, konnte mich nicht zurückziehen in einen solchen Schlaf, lang, lang, ohne denken zu müssen, ohne etwas zu spüren und mich erst von den unverkennbaren Schwingungen des herankommenden Frühjahrs wieder wecken zu lassen.

Eines Tages, wußte ich, würde dieser Morgen kommen, mit der gleichen Unfehlbarkeit, mit der er jedes Jahr um diese Zeit gekommen war, vielleicht ein paar Tage früher oder später. Heute aber war es wie ein Überfall, traf mich so unerwartet, zu früh, zu unwiderruflich, mit solcher Strenge. Ich knöpfte den Mantel zu, zog den Hut tiefer und zündete eine Zigarette an, um den Schneegeruch nicht wahrnehmen zu müssen, ihn noch einmal loszuwerden, und sei es auch nur für den Augenblick. Das Unbeschwerte des Sommers hatte sich schon aus den Minuten verflüchtigt. Kälte würde einziehen in die Straßen, meine Kleider durchdringen, meine Haut, bis ins Innerste vordringen und es lähmen.

Aufkreischend quält sich die Straßenbahn um die Ecke. Ich werfe meine Zigarette fort. Sie verglimmt auf dem Straßenpflaster. Ich möchte mein Gesicht verstecken, den Mantelkragen hochschlagen, damit niemand mein Gesicht sehen kann. Ich wünschte, es wäre aus Stein, verschlossen und reglos, damit keiner daraus erfährt, daß ein Ereignis wie der Beginn einer neuen Jahreszeit mich verwirren kann.

Ich steige ein, finde noch einen freien Platz und sehe sofort angestrengt aus dem Fenster. Laß dich nicht ansehen, gib dich nicht preis, denke ich. Die Bahn füllt sich, an jeder Station steigen Leute ein, kaum einer aus. Ich wage ein erstes Mal, mich umzusehen.

Hatte ich erwartet, alle Augenpaare auf mich gerichtet zu finden? Niemand sieht mich an, keiner interessiert sich. Warum wundert es mich? Es ist doch nur wie jeden Morgen: Zeitungen, Bücher, hier und dort ein paar halblaute Gespräche. Wie mühelos sie fertigbringen, worum ich mich an diesem ersten Herbstmorgen verzweifelt bemühe: mir nicht in die Seele blicken zu lassen, unerkannt zu bleiben, von Fragen und Antworten verschont.

Mir gegenüber sitzt eine junge Frau, ein Kind auf dem Schoß. Ich sehe sie an, daß ich fürchte, sie müßte es sofort bemerken, und es müßte ihr unangenehm sein, so daß sie sich abwendet. Aber sie wendet sich nicht ab. In ihren Zügen sind nicht die untrüglichen Zeichen der Unruhe, die mich überfallen hat, heute morgen, als ich aus dem Haus trat, und die in meinen Augen glühen muß, ein Brennen. Da war nichts.

Immer mehr Menschen steigen zu, deren Gesichter ich genau betrachte. Ich suche nach einer Unruhe wie der, die sich in meinem Innern eingenistet hat. Doch ich finde nichts als die Angst einiger vielleicht, zu spät zu kommen, weil sie die vorige Bahn verpaßt hatten. Der Herbst scheint sie nicht zu rühren. Sie nehmen ihn unbekümmert hin wie einen leichten Windstoß, wie alles, das, seit sie denken können, war, wie es ist: kein Grund zur Aufregung.

Die Straßenbahn hält, und ich steige aus. Von der Haltestelle bis zur Schule ist es nicht mehr weit, zweihundert Meter durch eine von Kastanien gesäumte Allee. Ich gehe langsam, den Kopf gesenkt. Es ist kalt.

Jemand ruft meinen Namen. Ich zucke zusammen. Ein Pflasterstein fliegt in die Krone einer Kastanie und prallt dumpf gegen einen Ast. Ich ziehe den Kopf ein, und der Stein landet knapp vor meinen Füßen auf dem Pflaster. Es ist Kastanienzeit, und vor und nach der Schule treffen sich ein paar Jungen aus den mittleren Klassen in der Allee, um mit Stöcken und Steinen in die weit ausladenden Kronen nach Kastanien zu werfen. Meist brechen die stacheligen Gehäuse beim Herunterfallen auf, und man kann, ohne sich zu stechen, die Kastanien herausnehmen. Sie werden dann ausgiebig poliert und verschwinden in den Hosen- und Jackentaschen der Jungen.

Manche Freundschaft hatte so begonnen. Besonders die Mädchen freuen sich, wenn ihnen in der Pause einer der Jungen heimlich eine solche warmbraune Frucht zusteckt. Sie betrachten die vielfach verschlungenen Linien auf der glänzenden Haut der Kastanie, sind glücklich und wissen zu danken, mit Blicken oder einer flüchtigen Berührung, die das Herz rasen macht und die Gesichter rot. Sie können verführerisch sein. Und die Jungen gehen immer wieder unter die Bäume, für einen Blick, für den kurzen Moment, den sie die Mädchenhaut spüren würden. Sie kennen keine Gefahr, und es nützt nichts, ihnen Strafe anzudrohen, ihnen zu versichern, daß die Kastanien in ein paar Wochen von selbst herunterfallen werden. Ein paar Wochen später wäre es nichts Besonderes mehr, eine Kastanie zu besitzen, und das Geschenk würde nicht mit der gleichen Dankbarkeit angenommen werden wie heute.

Ich habe den kleinen Wächter nicht erkannt, und es ist mir recht so. Durchgefroren trete ich ins Schulhaus, laufe, um schnell warm zu werden, die Treppe hinauf, mehrere Stufen auf einmal nehmend. Im Lehrerzimmer treffe ich Franziska. Sie lächelt mir zu.

Wie gehts? fragt sie.

Danke gut, sage ich. Und beginne den Tag mit einer Lüge.

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