Ich kann Ihnen eine Geschichte erzählen
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/Daniel/ Ich kann Ihnen eine Geschichte erzählen: von der Leidenschaft des Schwebens, von jenen Augenblicken, in denen die Zeit stehenbleibt, damit das Herz ein paar Schläge aufholen kann.
Wenn der Löwe langsam über den Konzertflügel schleicht, müde, und mit seinem Schwanz über die Tasten wischt, ganz sorglos, ein dumpfer Akkord.
Wenn ein Mädchen am Morgen lächelnd die Augen aufschlägt und die Wand streichelt, an der sein Bett steht. Und ein Mann, dessen Mund vernäht ist, dennoch sprechen lernt durch seine Augen.
Wenn eine Wand zwischen zwei ungleichen Zimmern zum Ablegeplatz eines Bootes wird und sich zwei eine Rast verdienen vor der langen, letzten Ausfahrt über den See.
Wenn die Uhren mit all ihren Pendeln und Zeigern, dem Stundenschlagen und Sekundentick eine neue Sprache erfinden, mit der man Wände durchdringt, ganz gleich, wie dick sie auch sind und wer immer hinter ihnen in Gedanken wach liegt oder träumend schläft.
Wenn die Stimmen der Väter und Großväter, Mütter und Tanten und Schwestern immer leiser werden und hinter dem Fächer langsam verstummen und ihre Worte ganz allmählich vergessen werden und neuen Worten Platz machen, die besser für sanfte Gespräche und eine Erklärung taugen.
Ein Ton blieb ungespielt. Einen Satz hast du nie gesprochen. Eine Geste mußtest du immer verstecken, weil sie alles verraten hätte. Die tote Großmutter im Bettkasten und die weißen Flecken im Laken. Das Whiskyglas und die leeren Flaschen. Die gesprengte Sonne und die geliehene Schönheit. Den heimlichen Kuß in die eigene Hand. Und die Wut und den Stolz und das laute Gefühl, das keinen Ausgang findet aus dem Gefängnis der Haut.
Es ist eine Geschichte mit Toten und Gästen, die ohne Einladung kommen und ebenso unerwartet verschwinden, wie sie aufgetaucht waren. Es ist eine Geschichte, die über einen Konzertflügel schleicht, müde, ein dumpfer Akkord. Es ist nur eine Notiz auf dem Rand einer Zeitung, die leicht versehentlich im Altpapier endet, wenn man sie nicht auswendig lernt und sich vorsagt am Morgen und sich vorsagt am Abend.
Man muß den Vorsager machen, um herauszufinden, wo die Wanderung begonnen hat. Man muß den Vorsager machen, um das Gepäck beisammen zu halten. Man muß den Vorsager machen und sich die Geschichten vorsagen, so oft man es braucht.
Diese Geschichte, sage ich, wollen Sie bestimmt nicht hören und blitze Dr. Anthony mit Kampfeslust an. Doch er rührt sich gar nicht, schüttelt nicht den Kopf, sondern sagt, ganz leise, nur: Doch.